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Sevesounglück



Das Sevesounglück war der bisher größte Chemieunfall Europas. Die Umweltkatastrophe ereignete sich am 10. Juli 1976 in der chemischen Fabrik Icmesa S.p.A (Tochterunternehmen von Givaudan, wiederum eine Tochter von Roche) in Meda, 20 Kilometer nördlich von Mailand. Das Firmengelände berührte das Gebiet von vier Gemeinden, unter ihnen Seveso, das Namensgeber des Unglücks wurde. Dabei wurden große Mengen des hochgiftigen Dioxins TCDD (umgangssprachlich auch nur Dioxin oder Sevesogift genannt) freigesetzt.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte des Unfalls

Bis Sommer 1976 wurde die Produktion von Trichlorphenol (TCP), einem Vorprodukt für das Desinfektionsmittel Hexachlorophen, gesteigert, obwohl einige Anwohner über Geruchsbelästigungen und gesundheitliche Beschwerden klagten. Eine Modernisierung der Produktion fand nicht statt.

Die Arbeitsbedingungen in der TCP-Produktion waren schlecht. Die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Ein Arbeiter berichtete später Folgendes: „Wenn eine Birne der Beleuchtungsanlage unserer Abteilung kaputt war, musste man erstmal Dampf unter Druck austreten lassen, um die giftigen Rauchwolken, die sich ständig unter dem Dach sammelten, zu entfernen, bevor einer von uns mit einer Leiter die Birne wechseln durfte.“ Außerdem musste die Belegschaft, die zum Zeitpunkt des Unglücks 163 Beschäftigte umfasste, ständig die Abteilungen wechseln und konnte sich nicht richtig einarbeiten und Erfahrungen sammeln.

Chronologie des Unfalls

Im Juli 1976 kam es zu einer fatalen Verkettung von unglücklichen Umständen. Am Nachmittag des 9. Juli, einem Freitag, besprach Jörg Sambeth, der als technischer Direktor der Givaudan auch für Icmesa verantwortlich war, mit den Vorarbeitern der TCP-Produktion den Plan für die kommende Woche. Im Bau B auf dem Werksgelände sollte wie üblich Trichlorphenol produziert werden. Hierzu wurde um 16:00 Uhr des gleichen Tages mit der Beschickung und Beheizung des Reaktionskessels 101 begonnen. Gegen Abend begann der Reaktor zu arbeiten. Um 2:30 Uhr am 10. Juli war laut Temperaturdiagramm die Reaktion des Kesselinhalts beendet. Um 6:00 Uhr war die Nachtschicht beendet. Ein Operateur schaltete das Rührwerk des Autoklaven 101 ab. Die zu diesem Zeitpunkt gemessene Temperatur von 158 °C war zu hoch. Dadurch, dass der Kesselinhalt keine Umschichtung mehr erfuhr, kam es zu einem Wärmestau. Das Wartungs- und Reinigungspersonal im Gebäude B merkte von der sich anbahnenden Katastrophe nichts.

Die chemische Kettenreaktion begann gegen 12:30 Uhr zunächst langsam, dann mit schnellem Druck- und Temperaturanstieg, und endete schließlich in einer Explosion. Um 12:37 Uhr platzte die Berstscheibe eines Sicherheitsventils infolge von Überdruck, der Kessel 101 entlud sich über eine Abblasstation in die Umwelt. Ein Auffangreservoir gab es nicht.

Über eine halbe Stunde lang wurde abgeblasen. Dabei wurden ein bis drei Kilogramm der hochgiftigen Substanz Dioxin (genauer: 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin) zehntausendmal giftiger als Zyankali, in die Umgebung freigesetzt.

Die sich ausbreitende Giftwolke trieb in südöstliche Richtung, verseuchte ein 1 mal 6 km großes dicht bevölkertes Gebiet der Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno.

Erst um 13:45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf eine unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1800 Hektar Land auf Jahre verseucht.

Die Folgen

Am Montag wurde im Werk weiter gearbeitet, nur Abteilung B stand still. In den folgenden Tagen welkten und verdorrten die Blätter von Bäumen und Sträuchern in der Umgebung, 3300 Tierkadaver wurden aufgefunden. Am Mittwoch schlossen die Behörden das Schwimmbad von Seveso. Den Anwohnern wurde gesagt, sie sollten in ihren Gärten alles Obst und Gemüse vernichten – weshalb, sagte man ihnen nicht. Am Donnerstag wurden vierzehn Kinder mit Chlorakne ins Krankenhaus eingeliefert, doch die Ärzte wussten nicht, wie sie sie behandeln sollten. Insgesamt erkrankten 200 Menschen an schwerer Chlorakne. Am Samstag, dem sechsten Tag nach dem Unfall, begannen die Icmesa-Arbeiter einen wilden Streik, der öffentliche Druck wuchs. Die Behörden reagierten spät und schlossen die Fabrik erst zum 17. Juli.

Obwohl die Werksleitung schon am ersten Tag nach dem Unfall wusste, dass Dioxin freigesetzt wurde, gab sie es erst acht Tage später offiziell bekannt, wie der technische Direktor später vor der Untersuchungskommission aussagte. Das Mutterunternehmen Roche wurde intern am 12. Juli von dem Unfall und der freigesetzten Substanz unterrichtet, ging aber ebenfalls nicht an die Öffentlichkeit. Die erste Krisensitzung am 15. Juli schilderte[1] Hans Fehr, der damalige Pressesprecher von Roche, in seiner Autobiografie „Eindrücke“ so: „Dr. Hartmann (Vizedirektor der Roche, Red.), ganz Oberst an der Front, stürmte den Ort der Handlung, gefolgt vom Chefchemiker von Givaudan, Dr. Sambeth. Gut, dass Sie da sind. Also erstens: Die Sache wird im engsten Kreise der Icmesa gehalten; Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Zweitens: Dass es bei der Herstellung von Hexachlorophen passiert ist, wird […] nicht erwähnt. Drittens: Dass Dioxin gebildet wurde, wird nicht erwähnt. Alles klar?

Proben vom Werksgelände und der Umgebung wurden gesammelt und untersucht. Unabhängige italienische Chemiker wiesen am 23. Juli in chemischen Analysen TCDD in den Proben nach. Sie erstellten eine Karte über die Ausbreitung der Substanz.

Der Roche-Chef Adolf Jann kommentierte[1] die ersten Opfer so: „Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma. Der Bub, der mit Leberschäden ins Spital eingeliefert wurde, hatte Gelbsucht. Beide Fälle haben mit der Icmesa nichts zu tun.“

Am 26. Juli verließen zunächst 208 Bewohner das verseuchte Gebiet. Die Zwangsräumung wurde behördlich angeordnet und das gefährdete Gebiet militärisch abgesperrt. Bewaffnete Soldaten mit zum Teil schweren Schutzanzügen und Gasmasken patrouillierten in den Straßen. Weitere 500 Personen wurden am 2. August evakuiert, nachdem noch schockierendere Analysenergebnisse eingetroffen waren. Die Firma Roche rief ihren Krisenstab zusammen. Die Gesundheitsbehörden rieten Schwangeren zu einer Abtreibung.

Zusammen mit der Roche-Konzernleitung versuchte die italienische Regierung einen Dekontaminationsplan für das verseuchte Gebiet zu erarbeiten. Dies mündete jedoch in zum Teil absurden Vorschlägen. Roche verpflichtete sich, grundsätzlich für alle Schäden und Dekontaminationsarbeiten aufzukommen. Im Herbst 1976 begannen die ersten Entseuchungsarbeiten. Zunächst wurde verseuchtes Laub eingesammelt und Gebäude mit speziellen Seifenlösungen behandelt, sofern deren Entseuchung überhaupt möglich war. Genaue Bodenanalysen sollten klären, wie stark das Erdreich verseucht war und ob eventuell das Grundwasser gefährdet war. Bis zum Sommer 1977 waren die ersten Dekontaminations-Maßnahmen beendet. Einige Betriebe und Schulen waren wieder nutzbar. Viele Gebäude waren jedoch so stark verseucht, dass nur deren Abbruch in Frage kam. Die innere Zone um die Fabrik blieb gesperrt. Das Erdreich in dieser Zone musste teilweise entfernt werden. Bis Jahresende 1977 konnten insgesamt 511 Personen ihre Häuser wieder beziehen.

Im Juli 1978 wurden die letzten Chemikalien, außer denen im Gebäude B, entfernt.

Die Dekontaminations-Maßnahmen in der Kernzone begannen erst im Frühjahr 1980. Hierzu wurde eine Grube mit 85.000 Kubikmetern Fassungsvermögen bei der Fabrik ausgehoben. Diese Grube wurde mit dicken verschweißten Kunststoffbahnen ausgekleidet. Die Grube sollte verseuchte Erde, Bauschutt und Schrott sicher einschließen.

1981 bis 1983 entschädigte Icmesa in außergerichtlichen Vergleichen die betroffenen Gemeinden Desio (mit 748.900 €), Cesano Maderno (1,47 Mio. €), Meda (671.400 €) und Seveso (7,75 Mio. €). 1993 klagten 850 Bürger aus den verseuchten Gebieten gegen Givaudan auf Entschädigung für den erlittenen moralischen und biologischen Schaden.[2]

In der Fabrik selbst begannen die Demontage- und Abbrucharbeiten. Das Gebäude B mit dem Havariekessel wurde aus Sicherheitsgründen nicht angetastet. Die italienischen Behörden beauftragten Anfang 1982 die Firma Mannesmann Italiana mit der Entsorgung des Reaktorinhaltes. Eine weitere Grube mit 160.000 Kubikmetern Fassungsvermögen wurde im Mai 1982 ausgehoben, um den Schutt von abgerissenen Gebäuden und verseuchtes Erdreich zu entsorgen.

Im Sommer 1982, sechs Jahre nach dem Unglück, wurde der Reparto B geöffnet. Darin verbliebene Rohrleitungen, Behälter und Aggregate wurden demontiert. Die Arbeiter, allesamt Freiwillige, trugen dabei schwere Schutzanzüge. Schließlich wurde der Reaktorkessel 101 entleert und der hochgiftige Inhalt in 41 Stahlfässer gefüllt. Diese Stahlfässer erhielten zusätzlich eine Umverpackung. Die Entleerung geschah unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und Videoüberwachung. Die raumanzugähnlichen Monturen der Arbeiter wurden von außen mit Frischluft versorgt und die Arbeitszeiten am Reaktor waren genau reglementiert.

Die Anzahl der Todesopfer ist unbekannt. Untersuchungen dokumentieren aber einen Anstieg von verschiedenen Krebsarten in der betroffenen Region. Siehe hierzu auch die Aussagen von Professor Bertazzi und seiner Mitarbeiter auf der Universität in Mailand (Milano) über die Langzeiteffekte des Seveso-Unglücks: Eine Studie zeigte eine vollständige Umkehr des Verhältnisses der Geschlechter. Obwohl in der Bevölkerung allgemein ein Verhältnis von 106 Männern auf 100 Frauen vorzufinden ist, beträgt dieses in Seveso 48 Frauen zu 26 Männern. Dies weist auf eine umfassende Änderung des hormonalen Stoffwechsels hin. [3]

Verlorener und wiedergefundener Giftmüll

Am 10. September 1982 wurden die Fässer mit dem Reaktorinhalt mit Lastkraftwagen abtransportiert. Die LKW fuhren Richtung Frankreich; ab St. Quentin verlor sich ihre Spur. Als die französische Presse vom „Verlust“ der Fässer erfuhr, kam es zum öffentlichen Skandal. Es begann eine verzweifelte Suche nach den Giftfässern. Die Fässer wurden an allen möglichen und unmöglichen Orten vermutet. Schließlich wandte sich das französische Umweltministerium an das deutsche Innenministerium, da dieses den Giftmüll in der Bundesrepublik Deutschland vermutete. Danach wurde in allen Deponien Westdeutschlands nach den Fässern gefahndet. Einige vermuteten die Fässer in der DDR.

Die deutsche Bundesregierung beauftragte nach erfolgloser Suche den Top-Agenten Werner Mauss mit der Recherche nach dem Verbleib der Fässer. Am 19. Mai 1983 wurden die Fässer schließlich in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anquilcourt-le-Sart gefunden und in die französische Kaserne Sissone gebracht. Die Schweizer Regierung erteilte Roche die Erlaubnis, die Fässer in Basel zwischenzulagern, wo sie am 4. Juni eintrafen.

Am 24. September 1983 verurteilte ein Gericht in Monza fünf Mitarbeiter in erster Instanz zu Freiheitsstrafen von zweieinhalb bis zu fünf Jahren. Alle Verurteilten gingen in Berufung. Das Gericht erkannte statt auf Vorsatz auf Fahrlässigkeit und setzte die Strafen des Produktionsleiters Jörg Sambeth, der damals für seine Firma schwieg, und der Schweizer und italienischen Angeklagten zur Bewährung aus. Laut Sambeth[4] waren Schmiergelder und verdeckte Beziehungen im Spiel.

 

Im April 1984 waren alle Dekontaminationsarbeiten in Seveso abgeschlossen. Man ließ einen Park und ein Sportgelände auf dem ehemaligen Areal der abgerissenen Icmesa anlegen. Über die Seveso-Katastrophe konnte erstes Gras wachsen. Nach zwei geglückten Testverbrennungen konnte der Reaktorinhalt vom 17. bis 21. Juni 1985 angeblich in Basel verbrannt werden.

Doch im Oktober 1993 behauptete der deutsche Fernsehjournalist und Physiker Ekkehard Sieker, dass der Reaktorinhalt nicht verbrannt, sondern in der Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern endgelagert worden sei. Brisant war dabei, dass die in Basel angelangten Fässer wesentlich schwerer gewesen sein sollen als die ursprünglich in Seveso abgefüllten. Es wurde eine Untersuchungskommission gegründet, die aber nach erfolgloser Suche aufgelöst wurde; die von Roche vorgelegten Dokumente waren laut Sieker unvollständig.

Sieker behauptet in seiner Reportage „Das Geheimnis von Seveso“, in der Anlage Icmesa wäre Dioxin nicht ein unerwünschtes Nebenprodukt gewesen, sondern an Wochenenden heimlich für militärische Zwecke produziert worden. Laut dem Seveso-Dokumentarfilm Gambit[5] von 2005 konnte der technische Direktor Jörg Sambeth dies nicht bestätigen, hielt es aber für technisch möglich. Denn Trichlorphenol ist der Grundstoff für das im Vietnamkrieg eingesetzte Entlaubungsmittels Agent Orange; es wurde mit Dioxin angereichert. Icmesa war weltweit die einzige Fabrik, die den Grundstoff Trichlorphenol herstellte.[4]

Als Jörg Sambeth im Dezember 2005 den Film „Gambit“ im Kino von Seveso vorführte, war er der erste Verantwortliche, der sich bei den Betroffenen entschuldigte.

Literatur

  • John G. Fuller: The poison that fell from the sky., Random House, New York 1977
  • Peter Voswinckel: Der Fall Seveso. Seminarvortrag an der Uni Münster, 1977
  • Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt: Seveso ist überall – Die tödlichen Risiken der Chemie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1978
  • Birgit Kraatz: Seveso oder wie Verantwortung zur Farce wird: ein Lehrstück, aus der die Großchemie nichts gelernt hat. Rowohlt, Hamburg 1979, ISBN 3-499-14349-6
  • Gift über Seveso: Kapitel aus Giftküchen des Teufels- Seite 249–298, Militärverlag der DDR, 1985
  • Seveso – 20 Jahre danach (Infoschrift Roche)
  • Jörg Sambeth: Zwischenfall in Seveso. Unionsverlag Zürich, 2004, ISBN 3-293-00329-X
  • Seveso - 30 Jahre danach, Publikation von Hoffmann La Roche

Quellen

  1. a b Ein Chef, der Gott spielte, Die Wochenzeitung, 2004
  2. Loss & Litigation Report: Umwelt-Schadensfälle, Kölner Rück, 2003
  3. Veröffentlichung des Monatsmagazins Environ Health Perspectives 106 (Suppl 2), S. 625-633, April 1998
  4. a b Ich war absolut dumm, taz, 2006
  5. Gambit
 
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