Chemisch-pharmazeutische Industrie will mehr als 1 Mrd. Euro in Digitalisierung investieren

Chemie 4.0: Innovationen für eine Welt im Umbruch

29.09.2017 - Deutschland

Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland bricht zu neuen Ufern auf. Mit Chemie 4.0 beginnt die vierte Entwicklungsstufe in der 150-jährigen Geschichte der Branche, die in den nächsten Jahrzehnten geprägt wird durch Digitalisierung, zirkuläre Wirtschaft und Nachhaltigkeit. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Chemie 4.0 – Wachstum durch Innovation in einer Welt im Umbruch“, die vom Verband der Chemischen Industrie (VCI) mit Unterstützung von Deloitte erstellt wurde. „Indem wir künftig digitale Massendaten nutzen, kann unsere Branche ihre Rolle in den Wertschöpfungsketten erweitern und neue Geschäftsmodelle entwickeln. Darüber hinaus verfügen wir über zukunftsorientierte Lösungen, um die zirkuläre Wirtschaft voranzutreiben“, sagte VCI-Präsident Kurt Bock zum Potenzial von Chemie 4.0 für die Entwicklung der Unternehmen. Daher planen die Unternehmen in den nächsten drei bis fünf Jahren über 1 Milliarde Euro in Digitalisierungsprojekte und neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren.

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Symbolbild

Digitalisierung ist für die deutsche Chemieindustrie kein neues Thema. Viele Unternehmen haben ihre Anlagen bereits automatisiert und setzen für die Steuerung digitale Prozesse ein. Aber die Nutzung von digitalen Massendaten, so die Studie, ermöglicht nicht nur Effizienzgewinne in der Produktion, zum Beispiel durch vorausschauende Wartung mittels Sensoren, sondern führt auch zu mehr Innovation, etwa durch virtuelle Realität und fortgeschrittene Simulationen für Forschung und Produktentwicklung. „Die Verknüpfung von digitalen Dienstleistungen mit Produkten der Chemie- und Pharmaindustrie ist der Schlüssel für zusätzliche Wertschöpfung“, betonte der VCI-Präsident.

Daran arbeitet die Branche zum Beispiel in der Präzisionslandwirtschaft („Digital Farming“). Unterstützung kommt für den Landwirt aus der Chemie nicht mehr allein in Form von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln; vielmehr sollen Apps helfen, Krankheiten und Schädlinge auf dem Feld zu identifizieren und die optimale Dosierung für die Behandlung der Kulturen zu finden. Weitere Module – etwa zur Analyse der Bodenbeschaffenheit und der Wettervorhersage – ergänzen das datenbasierte Modell, mit dem der Landwirt seinen Betrieb steuern kann. Damit lassen sich betriebswirtschaftliche und die Umwelt beeinflussende Faktoren verbessern.

Zu den Perspektiven in der Medizintechnik gehören neue, im 3D- oder zukünftig sogar im 4D-Druck hergestellte Produkte, deren Materialien von der Chemie entwickelt und angeboten werden. Werkstoffe aus dem 4D-Druck haben als zusätzliche „Dimension“ ein Formgedächtnis, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aktivieren lässt. So können medizinische Implantate in einer leicht zu verarbeitenden Form hergestellt werden, die dann am gewünschten Ort im Körper ihre gespeicherte Form annehmen.

Zirkuläre Wirtschaft: Chemie-Optionen für mehr Ressourceneffizienz

Geschlossene Stoffkreisläufe gewinnen in Europa an Bedeutung. Trotz Recycling werden derzeit in der EU aber nur 13 Prozent aller eingesetzten Materialien in Kreisläufen geführt. Deutschland ist hier deutlich weiter: Knapp die Hälfte (46 Prozent) des Kunststoffabfalls von 5,9 Millionen Tonnen wird durch Recycling wieder stofflich genutzt, 53 Prozent werden energetisch verwertet. Von der Chemie oder chemienahen Unternehmen sind verschiedene industrielle Rücknahmesysteme im Markt etabliert worden, zum Beispiel für das Recycling von Fensterprofilen, Agrarfolien und Chemiepaletten. Und die energetische Verwertung von Kunststoffen trägt dazu bei, dass aus Abfällen Energie und Wärme gewonnen wird.

Da das Konzept einer zirkulären Wirtschaft aber über klassisches Rohstoff-Recycling hinausgeht und alle Maßnahmen einschließt, die die Ressourceneffizienz steigern, wird das Konzept Einfluss auf Produktportfolios und Geschäftsmodelle der chemisch-pharmazeutischen Industrie nehmen. Die Branche besitzt hier eine Reihe strategischer Optionen für die Zukunft: Hochleistungswerkstoffe, um den Ressourcenverbrauch bei den Kunden zu reduzieren, verstärkter Einsatz nachwachsender Rohstoffe und biologisch abbaubarer Produkte, Gewinnung von Basischemikalien in Bioraffinerien, Nutzung von Abfall als Rohstoff („Waste to Chemicals“) und von Stromüberschüssen zur Herstellung von Chemikalien („Power to X“) sowie die Verwertung von CO2 als Rohstoff. Während Technik und Verfahren Marktreife erlangen, lässt der Markt wegen höherer Kosten im Vergleich zu den konventionellen Methoden noch auf sich warten. Bock: „Der Weg hin zu umfassendem zirkulären Wirtschaften erfordert einen langen Atem von den Unternehmen. Sie haben zwar bereits Pilotanlagen für solche Lösungen aufgebaut – aber wirtschaftlich lassen sich heutzutage die wenigsten dieser Anlagen betreiben.“

Geschäftsmodelle in der zirkulären Wirtschaft werden in der Regel aus Netzwerken von Partnern verschiedener Branchen bestehen, stellt Deloitte in der Studie fest. Die Digitalisierung erleichtere die unternehmensübergreifende Kooperation in solchen ökonomischen Netzwerken. Unternehmen, die dort erfolgreich sein wollen, müssten sowohl technische Kompetenzen wie auch Netzwerkkompetenzen auf sich vereinen. VCI-Präsident Bock sieht gute Chancen, dass Chemieunternehmen aufgrund ihrer Erfahrung mit komplexen Produktionsabläufen eine zentrale Rolle als „Orchestrator“ in diesen Netzwerken einnehmen können.

Mittelstand sieht Chancen

Die Analysen von Deloitte wurden durch eine Befragung mittelständischer Chemie- und Pharmaunternehmen ergänzt. Insgesamt haben sich 124 mittelständische Unternehmen aus allen Bereichen der Chemie- und Phar­maindustrie beteiligt. Henrik Follmann, Vorsitzender des Ausschusses Selbständiger Unternehmer im VCI: „Die mittelständischen Unternehmen zeigen sich in der Befragung überzeugt, dass die Digitalisierung und die zirkuläre Wirtschaft gerade dem Mittelstand neue Möglichkeiten eröffnen.“

Diese Chancen wollen die Mittelständler in erster Linie durch Innovationen nutzen. Zwei Drittel der befragten Unternehmen haben eine Digitalisierungs-strategie entwickelt oder arbeiten gerade daran. Vor allem im Bereich Digitalisierung hat die Befragung aber auch Hemmnisse aufgezeigt. „Ganz besonders nötig ist die Förderung eines schnellen Breitbandausbaus im ländlichen Raum. Außerdem muss die digitale Bildung über alle Altersstufen hinweg verbessert werden“, so Follmann.

Transformation braucht industriepolitischen Rückenwind

Der Wandel zu Chemie 4.0 stellt eine Vielzahl von Anforderungen an die Branche: Der Paradigmenwechsel benötigt aber auch Unterstützung durch industriepolitische Maßnahmen. „Der Wandel gelingt am besten in einem politischen und regulatorischen Umfeld, das neue Produkte und Investitionen fördert. Die Industriepolitik der nächsten Bundesregierung muss daher vor allem eines sein: gute Innovationspolitik“, erklärte der VCI-Präsident.

Für die Weiterentwicklung der Digitalisierung sieht die Studie drei politische Prioritäten: Die öffentliche Hand müsse die technische Infrastruktur ausbauen, die digitale Bildung fördern sowie die Datensicherheit verbessern und Datenschutz-regelungen prüfen. Als Ziel wird deklariert, dass spätestens bis 2025 die erforderliche schnelle Breitband-Infrastruktur für die Telekommunikation steht. Parallel sei der Aufbau eines leistungsfähigen Sicherheitsnetzwerks in Deutschland und Europa zwischen Behörden, Unternehmen und Forschung zu bewerkstelligen. Der Maßstab für den datenschutzrechtlichen Regulierungsrahmen sollte sich am mündigen Bürger orientieren.

Für Fortschritte in der zirkulären Wirtschaft sollten laut Vorschlag der Studie künftige Vorschriften einem Innovations-Check unterzogen werden, damit sie neue Geschäftsmodelle nicht behindern. Um mehr Investitionen anzuregen, werden staatliche Anlauffinanzierungen für neuartige Projekte und Erleichterung des Zugangs zu Wagniskapital sowie Förderung von Private-Public-Partnerschaften in Form von Pilotprojekten empfohlen. Die Politik sollte zudem ein grundlegendes Verständnis in der Gesellschaft für eine zirkuläre Wirtschaft fördern. Dazu gehöre zum Beispiel, Transparenz über Ziele und Kosten zu schaffen.

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