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Bürgerdialog Kernenergie



Der Bürgerdialog Kernenergie war von 1975 bis 1978 eine Reihe von Veranstaltungen als ein Instrument der deutschen Bundesregierung, den wachsenden Widerstand gegen Atomkraftwerke zu dämpfen und zu kanalisieren, mit dem zunächst nicht eingestandenen Ziel, das Atomprogramm durchzusetzen.

Inhaltsverzeichnis

Matthöfers Auftrag

In Reaktion auf das unbefriedigende Vorgehen der baden-württembergischen Landesregierung gegenüber der Bevölkerung im Konflikt um das Atomkraftwerk Wyhl versuchte die Bundesregierung seit 1975, selbst aktiv in die öffentliche Diskussion einzugreifen. Der Bundesminister für Forschung und Technologie Hans Matthöfer wurde beauftragt, Diskussions- und Seminarveranstaltungen zu organisieren, in denen Gegner und Befürworter der Atomenergie untereinander und mit der Bundesregierung ins Gespräch kommen sollten.

Hartmut Gründlers Vorstoß in Wyhl

Nachdem Matthöfer schon am 6. März 1975 das Angebot eines „vertrauensvollen Dialogs mit dem mündigen Bürger“ gemacht hatte, forderte der Umweltschützer Hartmut Gründler aus Tübingen, der auf dem besetzten Bauplatz für das Atomkraftwerk Wyhl einen Hungerstreik durchführte, zunächst von ihm vielmehr die Einrichtung einer Wanderausstellung, welche „die volle Wahrheit über Atomkraftwerke“ unters Volk bringen sollte.

Die Strategie der Bundesregierung

Matthöfer ging darauf nicht ein, denn einerseits war die Bundesregierung von der Richtigkeit ihrer Atompolitik überzeugt und glaubte zunächst, der Widerstand gegen die Atomenergie beruhe nur auf mangelndem Wissen. Andererseits hatte sie - zumindest in den Augen von Atomkraftgegnern - die Absicht, in dem notwendig gewordenen Dialog die Umweltbewegung zu spalten, und zwar einerseits in diejenigen, die darauf einzugehen bereit waren und gegebenenfalls als Gegenexperten in Verfahren der parallelen Begutachtung und Expertendiskussionen eingebunden zu werden hofften, und andererseits in diejenigen, die voraussehbar in ihrem fundamentalen Misstrauen und in grundsätzlicher Ablehnung der hinter der Atomtechnik stehenden „kapitalistischen Strukturen“ jeden engeren Kontakt mit Behörden, Betreibern und auch der empirischen Sozialforschung zu vermeiden suchten.

Zusicherung des „Bürgerdialogs Kernenergie“

Hartmut Gründler brach im Juni 1975 in Wyhl einen erneuten Hungerstreik ab, als von Matthöfer die Einrichtung des sogenannten „Bürgerdialogs Kernenergie“ zugesichert wurde, an dem er sich dann mehrfach beteiligte. Dr. Klaus Lang, der im BMFT für den „Bürgerdialog Kernenergie“ zuständig war und auch im Juni 1976 Gründler in Tübingen von einem weiteren Hungerstreik abzubringen versuchte, hat später zugegeben, dass es „schon ein durchsetzungsorientierter Dialog der Bundesregierung“ war, den er allerdings fair und offen zu gestalten suchte, zumal auch in den Broschüren des Ministeriums, z.B. der „Bürgerinformation“ vom Oktober 1975, Atomkraftgegner zu Wort gekommen sind.

Praxis der Bürgerdialog-Veranstaltungen

Der Auftakt des Bürgerdialogs fand am 22. Juli 1975 in Bonn statt. Matthöfer stellte sich über drei Stunden lang einem Gespräch mit 21 Sprechern von Bürgerinitiativen und legte sich auf eine Folge von etwa zehn öffentlichen Diskussionen mit ihnen fest. Zu Beginn des Gespräches waren über 20 Journalisten anwesend. Die Bürgerinitiativvertreter entwickelten allerdings anschließend nicht die denkbare gemeinsame Strategie für den Fortgang. Eine vom Battelle-Institut dokumentierte Bürgerdialog-Veranstaltung fand am 21. März 1976 in Darmstadt kurz vor der Inbetriebnahme des AKWs Biblis B statt. Anwesend waren neben zahlreichen besorgten Bürgern der Bundesforschungsminister selbst mit seinem Referenten, ein AKW-Direktor und ein RWE-Vertreter, auf der anderen Seite Vertreter des BBU und eine sachkundige Studentengruppe vom Arbeitskreis Umwelt an der TH Darmstadt. Der Minister fand zu manchen der aufgeworfenen Fragen, welche Probleme der Atomtechnik und der Endlagerung betrafen, nur unbefriedigende oder gar keine Antworten. Versuche, das Misslingen dieser Veranstaltung (und anderer) zu erklären, verwiesen auf Kommunikationsprobleme angesichts der Komplexität mancher Sachverhalte.

Zweifel am Sinn der Bürgerdialoge Kernenergie

Thematisiert wurde auf solchen Seminaren auch, welche Ziele die Bundesregierung mit den Veranstaltungen des „Bürgerdialogs“ verfolge. Man stellte kritisch fest, der Bürgerdialog sei eine Veranstaltung, die von den Beteiligungsverfahren völlig abgelöst sei und auf diese angesichts des unbeirrten Fortgangs der Planungen keine Auswirkungen habe, sodass der Bürgerdialog daher für die Planungsentscheidung für das jeweilige Atomkraftwerk keine Legitimation vermitteln könne – ein früher Einwand, der durch das spätere Eingeständnis einer Doppelgleisigkeit, einer „Zweischienentheorie“, seine Bestätigung fand. Man befand auch, ein „Bürgerdialog Kernenergie“ erübrige sich, wenn allein schon die Erörterungstermine fair ablaufen könnten.

Eingeständnis der Unverbindlichkeit des „Bürgerdialogs Kernenergie“

Der unbefriedigende Eindruck, den die Darmstädter und weitere Veranstaltungen hinterließen, führte dazu, dass das Interesse daran erlahmte. Allein Hartmut Gründler vom Tübinger Arbeitskreis Lebensschutz hielt trotz wachsenden Misstrauens gutwillig an der Gesprächsmöglichkeit fest und führte z.B. Ende August 1977, also wenige Monate vor seiner Selbstverbrennung in Hamburg, in Bergisch-Gladbach unter dem Thema „Wahrheit in die Atompolitik“ noch einmal ein vom Bundesforschungsministerium finanziertes Atomseminar durch, obwohl Minister Matthöfer, im Juni 1976 von Gründler durch seinen Hungerstreik gezwungen, in einem an ihn gerichteten Brief vom 23.6.1976 indirekt die Unverbindlichkeit des von ihm propagierten Bürgerdialogs eingestanden hatte, indem er bestätigte, dass der Bürgerdialog Kernener­gie die politischen Entscheidungen „auf kurze Frist“ nicht beeinflussen sollte.

 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Bürgerdialog_Kernenergie aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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