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Atomsemiotik



  Atomsemiotik ist die Bezeichnung für eine Richtung der Semiotik, die sich mit der Warnung der Nachwelt vor den Gefahren des Atommülls beschäftigt.

Diese Forschungsrichtung entstand im Jahr 1981, als eine dreizehnköpfige Arbeitsgruppe („Human Interference Task Force“) aus Ingenieuren, Anthropologen, Kernphysikern, Verhaltensforschern und anderen im Auftrag der US-Regierung und des Bechtel-Konzerns Untersuchungen über menschliches Eindringen in Endlager anstellten. Aufgabenstellung des Forscherteams war es, herauszufinden, wie man verhindern könnte, dass Menschen in das atomare Endlager des Yucca Mountain in Nevada eindringen könnten.  

Inhaltsverzeichnis

Problemstellung

Durch die Zündung von Atom- und Wasserstoffbomben in einem denkbaren Krieg, aber auch durch den Betrieb von Kernkraftwerken werden radioaktive Stoffe in solchen Mengen erzeugt, dass ihre gesundheitlichen Wirkungen noch in Tausenden von Jahren tödlich sein können. Die Nukleartechnik zwingt die Verantwortlichen also, die radioaktiven Stoffe für diesen langen Zeitraum von den Menschen fern zu halten. Es gibt aber keine Einrichtung, die in der Lage ist, kontinuierlich für Tausende von Jahren das notwendige Wissen zu verwalten. Die Kultur früherer Jahrhunderte wird unverständlich, wenn sie nicht alle paar Generationen in die neuen Sprachen übersetzt wird. Auch staatliche Institutionen haben selten mehr als einige hundert Jahre Bestand. Selbst die Religionen sind kaum älter als ein paar tausend Jahre und haben nicht naturwissenschaftliche Informationen, sondern Mythen überliefert.   In Deutschland haben sich Wissenschaftler, Atomkraftbefürworter und Atomkraftgegner im Rahmen von Analysen des "Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte" (AKEND) festgelegt, dass Atommüll für einen Zeitraum von einer Million Jahre sicher von der Biosphäre abgeschlossen werden muss. Das wären 1000 x 1000 Jahre, bzw. 50.000 (Menschen-)Generationen. Früher war ein Zeitraum von 10.000 Jahren willkürlich gewählt worden, ist aber angesichts der Halbwertszeit beispielsweise von Plutonium-239 mit 24.000 Jahren sehr kurz. Andere Substanzen haben sogar Halbwertszeiten von Millionen von Jahren. Damit ist allerdings ihre Aktivität entsprechend schwächer als bei kurzen Halbwertszeiten.

Andererseits hat die schriftlich tradierte Geschichte der Menschheit bis jetzt gerade eine Dauer von 5.000 Jahren. Mögliche Warnungen in Keilschrift werden nur von Experten, solche in der Indus-Schrift von niemandem verstanden.

Lösungsansätze

Drei Dinge müssten der Nachwelt mitgeteilt werden:

  1. dass es sich überhaupt um eine Mitteilung handelt,
  2. dass an einer bestimmten Stelle gefährliche Stoffe lagern,
  3. Informationen über die Art der gefährlichen Substanzen

Die Frage, wie die heutigen Menschen ihren Nachfahren den Lagerungsort und die besonderen Gefahren von Atommüll mitteilen können, veranlasste die Tübinger Zeitschrift "Zeitschrift für Semiotik", in den Jahren 1982 und 1983 eine Umfrage zu den Möglichkeiten der Kommunikation über einen Zeitraum von 10.000 Jahren durchzuführen. Diese Frage gab sie an verschiedene Personen weiter und kam dabei zu folgenden Ergebnissen:

Fragestellung

Frage: »Wie ist es möglich, unsere Nachkommen innerhalb der nächsten 10.000 Jahre über die Lagerungsorte und die besonderen Gefahren von Atommüll zu informieren?«

Hauptprobleme

  1. Soweit es technisch möglich ist, Endlager von radioaktiven Abfällen für Jahrtausende von der Biosphäre zu isolieren, ist das Problem zu lösen, wie man intelligente Lebewesen davon abhalten kann, diese Barrieren absichtlich oder unabsichtlich zu zerstören.
  2. Soweit es technisch nicht möglich ist, radioaktive Abfälle auf Dauer von der Biosphäre zu isolieren, ist eine Wartung über Tausende von Jahren erforderlich, die in der Lage sein muss, Lecks zu lokalisieren und ihre Gefährlichkeit zu evaluieren.

Lösungsvorschläge

Im französischen Centre La Manche werden kurzlebige radioaktive Abfälle in Deponien gelagert, die 300 Jahre lang überwacht werden sollen. Doch dieser Zeitraum reicht für hochradioaktive Abfälle bei weitem nicht aus.

Thomas Sebeok

Der Linguist Thomas Sebeok war Mitarbeiter der Bechtel-Arbeitsgruppe. Er greift die von Alvin Weinberg im Jahr 1972 und Arsen Darnay in den Jahre 1976 bzw. 1981 entwickelte Idee einer »Atompriesterschaft« auf, eines Gremiums von Experten, das Abgänge nach Art eines Kardinalskollegiums durch Neuernennungen ausgleicht. Wie die katholische Kirche über 2.000 Jahre ihre frohe Botschaft bewahrt und deren Übersetzung in neue Sprachstufen autorisiert hat, so hätte die »Atompriesterschaft« die Botschaft vom Ort der Atommüllager und den Folgen des Eindringens zu bewahren und zu verbreiten, indem sie Rituale und Mythen schafft. Sie würden darauf hinweisen, welche Gebiete zu meiden seien und welche Vergeltung bei Nichtbeachtung drohen.

Denkt man allerdings die Konsequenzen einer so genannten »Atompriesterschaft« zu Ende, kommen große Zweifel auf:

  1. Auf je mehr Eventualitäten die »Atompriesterschaft« sich einrichtet, desto größer wird ihr Einfluss.
  2. Das Relaissystem begünstigt die Ausbildung von Hierarchien.
  3. Wer die Botschaft in mehrere voneinander unabhängige Mitteilungen aufspaltet, kann zur systematischen Diskriminierung bestimmter Arten von Adressaten nutzen.
  4. Die Kenntnis des Ortes und der Beschaffenheit von Atommüllagern verleiht Macht. Menschen neigen dazu, ihre Privilegien zu bewahren, auch Informationsprivilegien.

Stanisław Lem

Der polnische Science-Fiction-Schriftsteller Stanisław Lem schlägt Satelliten in der Erdumlaufbahn vor, die Jahrtausende lang Informationen zur Erde senden. Außerdem schlägt er eine biologische Kodierung in der DNS vor im Sinne »mathematischer Codierung auf lebendem Trägermaterial«, das sich wie alle Lebewesen selbsttätig erneuert.

Informationspflanzen, die nur in der Nähe von Endlagern wachsen, sollten über die Gefährlichkeit informieren. Der Bauplan dieser so genannten »Atomblumen« soll eventuell Botschaften über Art und Gefahr des betreffenden Lagers enthalten. Allerdings bleibt die Frage offen, wer in 10.000 Jahren die Tatsache verrät, dass die Atomblumen zu diesem Zweck geschaffen wurden, und ob es sich lohnt, ihren Code zu knacken.

Francois Bastide und Paolo Fabbri

Die französischen Autoren Francois Bastide und Paolo Fabbri schlagen die Züchtung von so genannten Strahlenkatzen vor. Diese Katzen sollten auf Radioaktivität als lebendes Warnzeichen mit Verfärbung reagieren. Um dies zu gewährleisten müssten sie über Märchen und Mythen im kollektiven Bewusstsein der Menschen verankert werden. Dies könne über Dichtung, Malerei und Musik geschehen.

Ihr Anliegen ist es, eine Alternative zu einmaligen konstanten Zeichenträgern zu finden, indem sie sich den zyklischen Selbsterneuerungsprozesses der Natur zunutze machen, die Botschaft über Jahrtausende gleich bleiben, die Zeichenträger aber wechseln lässt. Ihr Ziel ist es, nicht nur die Botschaft, sondern auch den Code konstant zu halten.

Vilmos Voigt

Vilmos Voigt von der Loränd-Eötvös-Universität Budapest schlägt die Aufstellung von konzentrisch angeordneten Warntafeln vor, die in den wichtigsten Weltsprachen die Warnung enthalten sollten. Nach einer gewissen Zeit sollen neue Tafeln mit einer aktuellen Übersetzung aufgestellt werden. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass die Warnung immer verstanden werden kann.

Vilmos Voigt geht davon aus, dass die notwendige Information in der Sprache der Erbauer mitgeteilt wird und um verständlich zu bleiben, ständig neu übersetzt werden muss. Er schlägt deshalb vor, alle paar Generationen in wachsendem Abstand vom Monument »konzentrisch angeordnete Warntafeln in zunehmend neueren Sprachen« aufzustellen, so dass ein Vordringen bis zum zentralen Monument mit einer Rückkehr in frühere Stufen der Sprachgeschichte verbunden ist.

Emil Kowalski

Der Physiker Emil Kowalski aus Baden in der Schweiz fordert, dass Endlager so angelegt sein müssen, dass künftige Generationen sie nur mit einem beträchtlichen Aufwand erreichen können. Die Wahrscheinlichkeit eines unbeabsichtigten Eindringens muss dadurch klein gehalten werden, dass Regionen künftiger Bodenschatzsuche gemieden werden. Außerdem seien Nachkommen, die Tiefbohrungen vornehmen können, höchstwahrscheinlich auch in der Lage, Radioaktivität zu erkennen.

Literatur

  • Roland Posner (Hg.): Warnungen an die ferne Zukunft – Atommüll als Kommunikationsproblem. Raben-Verlag, München, ISBN 3922696651
  • Und in alle Ewigkeit. Kommunikation über 10.000 Jahre. Zeitschrift für Semiotik, Band 6, Heft 3, 1984
  • J. Kreusch und H. Hirsch: Sicherheitsprobleme der Endlagerung radioaktiver Abfälle in Salz. Gruppe Ökologie, Hannover 1984
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Atomsemiotik aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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