Europäische Chemieindustrie droht, Kunden aus den Augen zu verlieren

07.05.2009 - Deutschland

Die weltweite Wirtschaftskrise führt dazu, dass sich Chemielieferanten verstärkt auf kurzfristige, zumeist interne Belange konzentrieren. Damit laufen sie Gefahr, die langfristigen Anforderungen ihrer Kunden aus den Augen zu verlieren. So ist beim Innovationsmanagement eine Refokussierung auf kurzfristige, anwendungsorientierte Innovationen zu beobachten; Investitionen in langfristige, teilweise aufwendigere und riskantere Themen werden verschoben. Damit vergibt die europäische Chemieindustrie wichtiges Wachstumspotenzial und schmälert ihre Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Das ist das Ergebnis einer europaweiten Befragung zum Kunden-Lieferanten-Verhältnis in der europäischen Chemieindustrie. Sie wurde von A.T. Kearney, CHEManager Europe und der Westfälische Wilhelms-Universität Münster unter dem Namen „Chemical Customer Connectivity Index“(C3X) zum zweiten Mal durchgeführt.

„Die Wirtschaftskrise hat die europäische Chemieindustrie und ihre Kunden hart getroffen. Dominoeffekt-artig hat sie die verschiedenen Teile der Wertschöpfungskette erfasst. Kurzarbeit, gestoppte Investitionsprojekte und Standortdiskussionen sind in den Vordergrund gerückt. Doch trotz der Notwendigkeit, kurzfristig Cash und Kosten zu optimieren, um den Herausforderungen der Wirtschaftskrise zu begegnen, bietet sich gerade jetzt für Chemieunternehmen die Chance, durch konsequente Ausrichtung an den Anforderungen der Kunden und vorausschauendes Handeln die Weichen für zukünftiges Wachstum zu stellen“, sagt Dr. Tobias Lewe, Partner bei A.T. Kearney.

Chemiekonjunktur weiter auf Talfahrt

Zeigten sich Chemiefirmen und ihre Kunden bei der letzten Befragung im August 2008 noch vergleichsweise optimistisch hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklung der Branche, haben sich die Prognosen seither bedeutend verschlechtert: Auf Hersteller- wie auf Kundenseite erwarten drei Viertel der Befragten eine weiterhin schwache beziehungsweise rückläufige Nachfrage. „Zurückzuführen sind die negativen Erwartungen auch auf die in den letzten Monaten zunehmend schmerzhaften Auswirkungen der Krise“, sagt Lewe. Über drei Viertel der befragten Chemiehersteller vermelden signifikante Nachfragerückgänge. Bei Chemiefirmen, die auf den Automobil- oder den Bausektor ausgerichtet sind, betragen sie teilweise bis zu 50 Prozent. „Die vergleichsweise optimistischen Aussichten unserer ersten Umfrage im August 2008 machen deutlich, dass eine Wirtschaftskrise dieses Ausmaßes sowohl für Hersteller als auch für Kunden völlig unerwartet kam. Die Prognosen deuten zudem darauf hin, dass die Krise ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht hat“, sagt Dr. Marc Vathauer, Berater bei A.T. Kearney und verantwortlich für die Umfrage.

Hinsichtlich der Rohstoffpreise erwarten drei Viertel der befragten Chemieunternehmen in den kommenden Monaten allerdings nur noch moderate Veränderungen von plus bis minus zehn Prozent. „Dies legt nahe, dass sich die im vergangenen Jahr stark volatilen Rohstoffpreise vorerst auf einem stabilen Niveau eingependelt haben“, sagt Vathauer.

Mit Prozessoptimierung gegen die Krise

Um der Krise entgegenzuwirken, haben sowohl Hersteller als auch Kunden bereits zahlreiche Initiativen ergriffen. Knapp 90 Prozent der Chemiehersteller und 75 Prozent der Chemiekunden sind darum bemüht, die eigenen Prozesse und Strukturen zu verbessern. Auch Portfolio-Optimierungen durch Veräußerungen oder Zukäufe werden inzwischen von jedem vierten Vertreter eines Chemieunternehmens erwägt.

„Als Reaktion auf die aktuelle Krise müssen viele Chemiefirmen ihre operative Effizienz stärken, um das operative Ergebnis und den Cash-Flow zu optimieren. Die Herausforderung besteht darin, sich dabei nicht zu sehr auf sich selbst zu konzentrieren und die Bedürfnisse der Kunden nicht aus den Augen zu verlieren. Sonst verspielt man möglicherweise einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. Besonders in rauen Zeiten wie diesen ist es wichtig, sich an den Anforderungen seiner Kunden zu orientieren, und zwar den gegenwärtigen wie auch den zukünftigen. Da diese jedoch oft erst in 10 bis 15 Jahren signifikant zum Unternehmensergebnis beitragen, gilt es hier, einen langen Atem zu beweisen“, sagt Lewe.

Die Studie bestätigt die Gefahr: Während im August 2008 noch jeder fünfte befragte Chemiekunde seinen Lieferanten ein „ausgezeichnetes“ Verständnis seiner Anforderungen attestierte, ist der Anteil auf vier Prozent gesunken.

Was Kunden wollen

Die Untersuchung hat gezeigt: Ein transparentes Preis-Leistungs-Verhältnis hat für Kunden der Chemieindustrie nach wie vor die höchste Priorität. Anders als in 2008 wird die Wichtigkeit von den Herstellern inzwischen erkannt. In anderen Bereichen weichen die tatsächlichen Prioritäten der Kunden jedoch deutlich von dem ab, was Chemiehersteller dafür halten. Während die Kunden von ihren Zulieferern etwa einen beschleunigten Innovationsprozess sowie Exzellenz in allen Prozessen erwarten (beide 59 Prozent), konzentrieren viele Hersteller ihre Bemühungen darauf, die Effizienz ihres Verkaufspersonals zu steigern oder maßgeschneiderte Service-Angebote zu entwickeln.

Vielfältige Erwartungen an ihre Lieferanten haben Kunden der Chemie nach wie vor im Bereich Innovation. Neue Produkteigenschaften und neue Technologien (beide 70 Prozent) werden ebenso gewünscht wie neue Anwendungsmöglichkeiten (67 Prozent). Signifikant an Bedeutung verloren haben für Chemiekunden jedoch Innovationssprünge in Form von völlig neuen Produkten (59 Prozent). Auch für Chemiehersteller liegen diese nur im Mittelfeld der Prioritäten. „Verstärkt legen europäische Chemieunternehmen derzeit ihren Fokus auf kurzfristig realisierbare Innovationen wie beispielsweise neue Anwendungsmöglichkeiten von bestehenden Produkten. Das deckt sich zwar mit dem, was Chemiekunden in der aktuellen Situation von ihren Lieferanten erwarten, auf lange Sicht greift dieser Ansatz jedoch zu kurz, da er die Gefahr einer zunehmenden Standardisierung der Produkte nach sich zieht. Um dem entgegenzuwirken und das Geschäft von morgen zu sichern, dürfen Chemieunternehmen es heute nicht versäumen, auch in langfristige Innovationen zu investieren“, erläutert Vathauer.

Nachhaltigkeit nach wie vor auf dem Vormarsch

Ebenso vielfältig wie in 2008 sind die Erwartungen der Chemiekunden beim Thema Nachhaltigkeit. „Bei der Umsetzung des Themas Nachhaltigkeit sind Kunden der Chemie wesentlich pragmatischer als ihre Lieferanten. Während die Abnehmerindustrien etwa alternative Rohstoffe, Unterstützung bei der Öko-Effizienz-Analyse oder neue Möglichkeiten der Abfallentsorgung erwarten, konzentrieren sich die Hersteller nach eigenen Angaben darauf, die Nachhaltigkeit ihrer Lieferkette insgesamt zu verbessern. Auch hier besteht für europäische Chemieunternehmen weiterhin beträchtliches Potenzial, sich im Sinne der Kunden vom Wettbewerb zu unterscheiden“, so Lewe.

Chemical Customer Connectivity Index

Zum zweiten Mal haben die A.T. Kearney, CHEManager Europe und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster das Kunden-Lieferanten-Verhältnis in der europäischen Chemieindustrie analysiert. Die Auswirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise bilden einen besonderen Schwerpunkt der Studie.

Lewe zusammenfassend: „Eine langfristige Orientierung ist ein ganz wesentlicher Baustein eines dauerhaften und zukunftsfähigen Kunden-Lieferanten-Verhältnisses. Für diejenigen Firmen, die gestärkt aus der aktuellen Wirtschaftskrise hervorgehen und nachhaltig wachsen wollen, kommt es jetzt darauf an, interne Prozesse zu optimieren, während sie gleichzeitig konsequent und systematisch an den Anforderungen ihrer Kunden ausgerichtet bleiben.“

Beteiligt haben sich Top-Manager von Chemieherstellern und Unternehmen verschiedener Kundenindustrien aus zwölf europäischen Ländern. Bei den Kundenindustrien finden sich zehn Branchen abgedeckt, von der Automobil- über die Lebensmittel- bis hin zur Kosmetikindustrie.

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