«Forschen bis zur sinkenden Nacht» - der Chemiker Justus von Liebig

05.05.2003
Gießen (dpa) - Justus von Liebig hat die Chemie aus dem akademischen Elfenbeinturm geholt. Seine «Chemischen Briefe», Vorläufer der populärwissenschaftlichen Literatur, veröffentlichte der berühmte Forscher regelmäßig in der «Augsburger Allgemeinen Zeitung». Seine Abendvorlesungen an der Universität München waren gesellschaftliche Ereignisse, bei denen auch die Königsfamilie auf den harten Holzbänken des Hörsaals Platz nahm. «Die Chemie kauderwelscht in Latein und Deutsch, aber in Liebigs Munde wird sie sprachgewaltig», schwärmten einst die Brüder Grimm. Der große deutsche Chemiker wurde vor 200 Jahren, am 12. Mai 1803, in Darmstadt geboren. Liebigs Karriere stand zunächst unter denkbar ungünstigen Vorzeichen. Wegen schlechter schulischer Leistungen hatten ihn seine Lehrer vom Gymnasium geworfen, die anschließende Apothekerlehre brach er nach nur wenigen Monaten ab. «Eigentlich war er eine gescheiterte Existenz», sagt die Historikerin Eva-Marie Felschow von der Universität Gießen. Doch die Leidenschaft für Chemie habe Liebig aus seinem «verkrachten Dasein» gerettet: In der Drogerie des Vaters brachte er sich Grundkenntnisse des Fachs bei, und mit einer Ausnahmegenehmigung konnte er auch ohne Abitur studieren. Nach wenigen Semestern in Bonn und Erlangen reiste der Student 1822 mit einem Stipendium in die Wissenschaftsmetropole Paris. Bei den führenden französischen Chemikern lernte Liebig empirische Forschung kennen - eine Methode, die in Deutschland kaum verbreitet war. «Hier waren Hochschulen selten forschend tätig, sie gaben das überlieferte Wissen lediglich kritiklos weiter», erklärt Felschow. Als der aufstrebende Forscher mit nur 21 Jahren einen Ruf nach Gießen erhielt, prallten daher altes und neues Wissenschaftsverständnis aufeinander - Konflikte waren programmiert. Von Anfang an mischte sich der junge Professor auch in die Universitätspolitik ein. «Auslöser waren wohl sein anfangs karges Gehalt und die schlechten Arbeitsbedingungen», berichtet die Liebig- Expertin. So war sein beengtes Labor im Wachhaus einer Kaserne untergebracht, die Ausstattung des Instituts war miserabel. «Man gab mir vier leere Wände statt eines Laboratoriums», klagte Liebig. Weil er Schritt für Schritt versuchte, die kleine Landesuniversität umzukrempeln und in eine moderne Forschungsstätte zu verwandeln, war er den alteingesessenen Professorenfamilien ein Dorn im Auge. Besonders an der Berufungspraxis entzündete sich heftiger Streit. Während Liebig allein nach wissenschaftlicher Leistung gehen wollte, beharrten viele Kollegen auf der «Verwandtenuniversität» - damit sie Söhne oder Neffen ins Amt hieven konnten. Um seine Vorstellungen in der Chemie, aber auch in angrenzenden Disziplinen durchzuboxen, kannte der streitbare Gelehrte mit dem aufbrausenden Temperament keine Skrupel. In zahlreichen polemischen Briefen wandte er sich etwa an den einflussreichen Universitätskanzler Justin von Linde in Darmstadt. «Der alte Bernhard gesteht offen, dass er seit 1815 kein Buch durchstudiert hat», lästerte er etwa 1842 über einen Kollegen. Da Liebig mit seinen Werken «Agrikulturchemie» und «Tierchemie» Weltruhm erlangt hatte und immer wieder mit seinem Weggang drohte, konnte er sich - ob bei Geldforderungen oder Stellenvergaben - häufig durchsetzen. «Angesichts der schlechten Staatsfinanzen war das umso bemerkenswerter», betont Felschow. Fast drei Jahrzehnte habe Liebig jedoch in Gießen «mit fast besessenem Eifer» geforscht, habe Fleischextrakt, Backpulver und Silberspiegel erfunden und mit seinem Renommee Hunderte von Studenten nach Mittelhessen gelockt. In seiner Autobiografie notierte Liebig denn auch: «Wir arbeiteten, wann der Tag begann, bis zur sinkenden Nacht. Zerstreuungen und Vergnügungen gab es in Gießen nicht.» Hier widerspricht allerdings Liebig-Expertin Felschow: Trotz seines enormen Pensums - Arbeit beschrieb Liebig oft als «leidenschaftliches Genießen» - habe er sich durchaus in Gesellschaftsvereinen und Ausflugslokalen vergnügt. «In Gießen hat er die Zerstreuungen schon genutzt, und in München hat er sie unheimlich ausgebaut.» Nach München, seiner letzten Station, ging Liebig 1852 gemeinsam mit Ehefrau Henriette Moldenhauer und den fünf Kindern. Dort wurde der erfolgreiche Chemiker, der zunehmend über seine zerrüttete Gesundheit und den Dauerstress klagte, vom Zeit raubenden Unterricht im Labor befreit. Auf dem Zenit seiner Karriere - als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften - forschte er kaum noch, sondern ließ sich als Repräsentant der Wissenschaft feiern. Liebig starb am 18. April 1873 an den Folgen einer Lungenentzündung.

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