Merck und Darmstadt geraten aneinander - Streit um Bauplanung

02.04.2004

Die Stadt Darmstadt gerät mit ihrem größten Arbeitgeber, der Pharmafirma Merck KGaA im doppelten Sinne aneinander. Mit zwei Bauprojekten in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätten hat sie den Widerstand des Unternehmens hervorgerufen. Vertrauensbruch und Unprofessionalität wirft der stellvertretende Merck-Chef Michael Römer dem Magistrat vor. Er sieht durch die Bebauung den Firmenstandort gefährdet. Die Stadt wiederum will sich von dem Unternehmen, das über 8400 Mitarbeiter beschäftigt, nicht die Planungshoheit streitig machen lassen.

Ausgangspunkt des Streits ist die Stilllegung des ehemaligen Bahnausbesserungswerks "Knell" vor vier Jahren. Die Stadt kaufte das zehn Hektar große Areal und entwickelte eine "städtebauliche Rochade". Auf dem Knell-Gelände sollen ein Bürogebäude für knapp 600 Mitarbeiter städtischer Tochterunternehmen, mehrere Großmärkte und ein neuer Platz für Messen entstehen. Auf dem frei werdenden, drei Hektar großen Messplatz ist der Bau von rund 200 Wohnungen geplant. Das Konzept wurde im vergangenen Jahr vom Bundesbauministerium mit dem "Best Practice"-Preis für Nutzung ehemaliger Bahnflächen ausgezeichnet.

Die Planung hat für Römer nur einen Haken: Die beiden Baugelände liegen in rund einem Kilometer Entfernung der Merck-Störfallbetriebe. Damit fallen sie unter die Bestimmungen der Seveso II-Richtlinie und der Bundesimmissionsschutz -Verordnung, die zur Zeit auch beim Ausbau des Frankfurter Flughafens im Zusammenhang mit dem Chemiewerk Ticona eine Rolle spielen. "Ein fester Abstand der Störanlagen zu Wohn- und Gewerbegebieten wird darin zwar nicht festgeschrieben, aber das Ziel des Gesetzes, nämlich der Schutz der Bevölkerung, muss berücksichtigt werden", erläutert Römer. Die Stadt scheine diese Regelungen aber nicht ernst zu nehmen. "Die Besprechungen haben manchmal an Nachhilfe-Unterricht erinnert", sagt ein Merck-Justiziar.

Nach den großen Chemie-Unfällen Ende des vergangenen Jahrhunderts hat das Unternehmen mit der Stadt und der Bevölkerung klare Vorgaben entwickelt. So wurde in einem Rahmenvertrag festgelegt, dass Merck alle Störfallanlagen in den südlichen Werksteil verlegt. Im Gegenzug verpflichtete sich die Stadt, das südlich gelegene Knell-Gelände nicht zu besiedeln. Wie das Gebiet trotzdem genutzt werden könnte, prüft zur Zeit ein Gutachten des TÜV Rheinland, das in diesen Tagen vorgelegt werden soll. Bis dahin war Stillstand verabredet. Dass die Stadt jetzt ohne Vorankündigung die Baugenehmigung für zwei Supermärkte erteilt hat, wertet Römer als persönlichen Affront: "Das ist ein Vertrauensbruch sondergleichen."

Bereits existierende Häuser, die zum Teil sehr nahe am Werk stehen, genießen Bestandschutz. Neue Maßnahmen unterliegen aber neuen Gesetzen. Mit jeder Änderung im Umfeld muss das Unternehmen deshalb mit verschärften Anforderungen beim Umbau oder Neubau von Anlagen rechnen. "Damit gebe es für Merck keine Rechts- und Investitionssicherheit mehr", sagt Römer. Das Unternehmen müsse dann die Produktion in andere Länder verlagern.

Baustadtrat Dieter Wenzel (SPD) ist dagegen zuversichtlich, den Interessenkonflikt "gemeinsam zu lösen". Seiner Rechtsauffassung nach unterliegen die Planungen nicht den Seveso-Richtlinien, die für innerstädtische Industriegebiete nur bedingt anwendbar seien. "Wir können uns durch das Werk nicht komplett unter Quarantäne begeben", erläutert er. "Durch die Autobahnen und Naturschutzgebiete außen herum haben wir sowieso kaum Spielraum." Außerdem müsse sich auch Merck auf die veränderte Situation einstellen. "Mein Beispiel lautet immer: Zwei kleinere Container mit Giftstoffen sind weniger gefährlich als ein großer."

Merck will sich mit solchen Sprüchen nicht abspeisen lassen. Römer hat Einspruch gegen den Flächennutzungsplan und den Bebauungsplan angekündigt. Außerdem wird er Widerspruch gegen die Baugenehmigung des Supermarktes einlegen: "Im letzten Schritt prüfen wir eine Normenkontrollklage vor dem Verwaltungsgericht Kassel." Wegen der Uneinsichtigkeit der Stadt werde es dann wahrscheinlich das erste Verfahren in der EU geben, das den "angemessenen Abstand" im Sinne von Seveso II festlegen wird.

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