Ultradünne zweidimensionale Materialen erstmals in einem Zustand zwischen fest und flüssig beobachtet

Neue Erkenntnisse über Phasenübergänge auf atomarer Ebene in realen Materialien

11.12.2025
Copyright: Jani Kotakoski

Der im Nion-Elektrikmodul eingesetzte Protochips-Fusion-Heizhalter samt Chip, der es den Wissenschaftlern ermöglichte, kontrollierte Hochtemperaturstudien im Vakuum des Mikroskops durchzuführen.

Wenn Eis zu Wasser schmilzt, passiert dies schnell, der Übergang von fest zu flüssig ist unmittelbar. Sehr dünne Materialien halten sich jedoch nicht an diese Regeln. Dort entsteht ein außergewöhnlicher Zustand zwischen fest und flüssig: die hexatische Phase. Nun gelang es Forscherinnen der Universität Wien diese exotische Phase in einem atomar dünnen Kristall direkt zu beobachten. Mit Hilfe modernster Elektronenmikroskopie und neuronalen Netzen filmten sie einen durch Graphen geschützten Silberiodid-Kristall beim Schmelzen. Ultradünne, zweidimensionale Materialien ermöglichten es Forscherinnen, Schmelzprozesse auf atomarer Ebene direkt zu beobachten. Die neuen Erkenntnisse tragen wesentlich zu unserem Verständnis dieser Phasenübergänge bei. Überraschenderweise widersprechen die Beobachtungen früheren Vorhersagen – ein Ergebnis, das nun in Science veröffentlicht wurde.

Wenn Eis schmilzt, geht alles ganz schnell: Sobald die Schmelztemperatur erreicht ist, verwandelt sich die feste, geordnete Struktur des Eises abrupt in das flüssige, ungeordnete Wasser. Ein solcher sprunghafter Übergang ist typisch für das Schmelzverhalten aller dreidimensionalen Materialien, von Metallen über Mineralien bis hin zu gefrorenen Getränken.

Wenn ein Material jedoch so dünn wird, dass es praktisch zweidimensional ist, ändern sich die Regeln des Schmelzens drastisch. Zwischen der festen und der flüssigen Phase kann eine neue, exotische Zwischenphase der Materie entstehen, die als "hexatische Phase" bezeichnet wird. Diese hexatische Phase, die erstmals in den 1970er Jahren vorhergesagt wurde, ist ein seltsamer Hybridzustand. Das Material verhält sich wie eine Flüssigkeit, in der die Abstände zwischen den Teilchen unregelmäßig sind, aber bis zu einem gewissen Grad auch wie ein Festkörper, da die Winkel zwischen den Teilchen relativ gut geordnet bleiben.

Da diese Phase bislang nur in wesentlich größeren Modellsystemen wie dicht gepackten Styroporkugeln beobachtet wurde, blieb bislang offen, ob sie auch in alltäglichen kovalent gebundenen Materialien auftreten kann. Genau dieser Nachweis gelang dem internationalen Forschungsteam unter der Leitung der Universität Wien nun: Die Wissenschafterinnen konnten diesen Prozess bei atomar dünnen Kristallen aus Silberiodid (AgI) erstmals beobachten und damit ein jahrzehntealtes Rätsel lösen. Ihre Ergebnisse bestätigen nicht nur die Existenz dieses schwer fassbaren Zustands in stark gebundenen Materialien, sondern liefern auch überraschende neue Erkenntnisse über die Natur des Schmelzens in zwei Dimensionen.

"Graphen-Sandwiches" machen die neue Beobachtung möglich

Um diesen Durchbruch zu erzielen, entwickelten die Forscherinnen eine raffinierte Methode zur Untersuchung des Schmelzprozesses von zerbrechlichen, atomar dünnen Kristallen. Sie betteten eine einzelne Schicht eines Silberiodid-Kristalls zwischen zwei Schichten von Graphen ein. Dieses schützende "Sandwich" verhinderte, dass sich der empfindliche Kristall während des Schmelzprozesses in sich selbst zusammenfaltete. In einem hochmodernen Raster-Transmissionselektronenmikroskop (STEM)erhitzte das Team die Probe schrittweise auf über 1.100 °C und filmte den Schmelzprozess in Echtzeit auf atomarer Ebene.

"Ohne den Einsatz von KI-Tools wie neuronalen Netzen wäre es unmöglich gewesen, all diese einzelnen Atome zu verfolgen", erklärt Kimmo Mustonen von der Universität Wien, Seniorautor der Studie. Das Team trainierte das Netzwerk mit riesigen Mengen simulierter Datensätze, bevor es die Tausenden von hochauflösenden Bildern verarbeitete, die durch das Experiment erzeugt wurden.

Ihre Analyse ergab ein bemerkenswertes Ergebnis: Innerhalb eines engen Temperaturfensters – etwa 25 °C unterhalb des Schmelzpunktes von AgI – trat eine deutliche hexatische Phase auf. Ergänzende Elektronenbeugungsmessungen bestätigten diesen Befund und lieferten starke Hinweise auf die Existenz dieses Zwischenzustands in atomar dünnen, stark gebundenen Materialien.

Ein neues Kapitel in der Physik des Schmelzens

Die Studie brachte auch eine unerwartete Wendung zutage. Nach den bisherigen Theorien sollten die Übergänge von fest zu hexatisch und von hexatisch zu flüssig jeweils kontinuierlich erfolgen. Die Forscherinnen beobachteten jedoch, dass der Übergang von fest zu hexatisch zwar tatsächlich kontinuierlich verlief, der Übergang von hexatisch zu flüssig jedoch abrupt erfolgte, ähnlich wie beim Schmelzen von Eis zu Wasser. "Dies deutet darauf hin, dass das Schmelzen in kovalenten zweidimensionalen Kristallen weitaus komplexer ist als bisher angenommen", sagt David Lamprecht von der Universität Wien und der Technischen Universität (TU) Wien, einer der Hauptautoren der Studie neben Thuy An Bui, ebenfalls von der Universität Wien.

Diese Entdeckung stellt nicht nur langjährige theoretische Vorhersagen in Frage, sondern eröffnet auch neue Perspektiven in der Erforschung von Materialien auf atomarer Ebene. "Kimmo und seine Kolleginnen haben erneut gezeigt, wie leistungsfähig die atomar aufgelöste Mikroskopie sein kann", sagt Jani Kotakoski, Leiter der Forschungsgruppe an der Universität Wien.

Die Ergebnisse der Studie vertiefen nicht nur unser Verständnis vom Schmelzen in zwei Dimensionen sondern unterstreichen auch das Potenzial fortschrittlicher Mikroskopie und KI bei der Erforschung der Grenzen der Materialwissenschaft.

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