Jena/Düsseldorf/Madrid (dpa) - Das Manteltierchen sieht aus wie eine kleine Rebe Weintrauben. Es hängt an Korallenfelsen im Mittelmeer und lebt davon, Nährstoffe aus dem
Wasser zu filtern. Bislang kaum vom Menschen beachtet, könnte es bald schwer kranken Krebspatienten helfen: Eine Substanz, die Wissenschaftler in der weintraubengroßen Seescheide Ecteinascidia turbinata fanden, stoppte in klinischen Tests das Wachstum von Tumoren. «Wir erwarten noch in diesem Jahr die europäische Zulassung unseres Medikaments mit dem Wirkstoff des Manteltierchens», sagt Maren Koban von PharmaMar, einer Tochter des spanischen Pharmaunternehmens Zeltia. Anfangs sollen Ärzte das so genannte Weichteilsarkom (Bindegewebskrebs) damit behandeln. «Es laufen zudem
klinische Studien für die Behandlung von Eierstock- und
Brustkrebs.»
Tiere,
Algen und
Mikroorganismen aus den Meeren könnten sich nach Meinung vieler Forscher zu einer der wichtigsten Quellen für neue medizinische
Wirkstoffe entwickeln. «Zum Schutz vor Fressfeinden haben viele marine Lebewesen giftige Substanzen entwickelt», erklärt der Düsseldorfer Professor für Pharmazeutische
Biologie, Peter Proksch. Diese eigneten sich häufig für die Behandlung von
Krebs, bakteriellen
Infektionen oder entzündlichen Erkrankungen wie
Rheuma. «Bislang ist zwar noch keiner der gefundenen Wirkstoffe auf dem Markt», sagt Proksch. Die vor 25 Jahren aufgekommene Aquapharmazie sei noch sehr jung - besonders im Gegensatz zur Erkundung von Heilpflanzen. «Aber es gibt heute weltweit schon etwa 15 Substanzen aus marinen Lebewesen, deren Wirkung klinisch erprobt wird.»
Das 20-köpfige Team von Proksch hat sich auf die Untersuchung von Schwämmen spezialisiert. Die Wissenschaftler beobachteten, dass manche Schwammarten im Korallenriff nicht angefressen wurden, während Fische alle anderen Tiere anknabberten. «Aus diesen giftigen Schwämmen isolierten wir die Wirkstoffe und analysierten ihre chemische Struktur», sagt Proksch. Zusammen mit Pharmafirmen wie
Bayer teste die Hochschule nun, ob sich die Substanzen tatsächlich als
Medizin eignen.
Weltweit haben Forscher nach Prokschs Auskunft rund 10 000 potenziell wirksame Substanzen gefunden, zumeist in den Tropen. In einem mehrjährigen Projekt suchten deutsche Wissenschaftler erstmals auch in den arktischen Meeren. Experten vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven sammelten im Eismeer 600 Pilzstämme. Wissenschaftler der Fachhochschule Ostfriesland (Wilhelmshaven) übernahmen die biotechnologische Bearbeitung, und am Jenaer
Hans-Knöll-Institut für Naturstoff-Forschung (HKI) wurden 120 Reinsubstanzen isoliert und charakterisiert. «18 dieser Moleküle zeigten in Tests so interessante Wirkungen gegen
Krebszellen oder Krankheitserreger, dass wir sie zum Patent angemeldet haben», sagt HKI-Projektleiterin Susanne Grabley.
Die mögliche Entwicklung von Medikamenten aus den im Eismeer gefundenen Substanzen überließ das HKI der hessischen Biotechnikfirma BRAIN AG. «Wir haben die Gift-Gene in
Bakterien eingebaut», sagt Forschungsvorstand Jürgen Eck. Durch das gentechnische Verfahren ließen sich die Wirkstoffe am wirtschaftlichsten gewinnen. Derzeit erforsche die Firma deren medizinische Wirksamkeit und suche einen industriellen Partner. «Bis
Medikamente aus den Meerespilzen in der Apotheke liegen, wird allerdings noch viel Zeit vergehen.»
Weiter in der Entwicklung von Meeres-Medizin ist der irische Arzneimittelhersteller Elan. Aus dem Gift der tropischen Kugelschnecke will die Firma ein Schmerzmittel produzieren, das tausend Mal wirksamer ist als Morphium. «Die klinischen Tests werden wir Ende des Jahres abschließen, das Medikament könnte also Mitte 2004 auf den Markt kommen», sagt Firmensprecher Sunny Uberoi. Das viele Geld, das Elan in die Kugelschnecken-Medizin investiert hat, soll bald wieder hereinkommen: «Wir erwarten bis zu 300 Millionen Dollar Umsatz im Jahr.»