Durchbruch: Reaktiver Zucker nach mehr als 100 Jahren Suche nachgewiesen
Forscher beobachten erstmals Spezies die der Nobelpreisträger Emil Fischer 1893 vorhersagte
© Freie Universität Berlin/Kevin Pagel
Der Berliner Chemiker und Nobelpreisträger von 1902, Emil Fischer (1852-1919), beschrieb 1893 erstmals eine Reaktion, mit der zwei Zuckerbausteine zu einem größeren Molekül verknüpft werden können. Diese Reaktion wird seitdem genutzt, um größere Zuckerketten herzustellen, die heute unter anderem als Impfstoffe dienen.
Schon zu Fischers Zeiten war bekannt, dass bei der Reaktion zum Teil unerwünschte Nebenprodukte auftreten. Spätere Untersuchungen zeigten, dass die Kupplung über ein hochreaktives Zwischenprodukt, ein Oxoniumion, erfolgt, an das von zwei verschiedenen Seiten ein weiterer Baustein geknüpft werden kann. Welches der beiden möglichen Produkte bei der Reaktion entsteht, wird bis heute anhand von empirischen Beobachtungen gesteuert. Die Oxoniumionen wurden aufgrund ihrer Reaktivität bisher jedoch nie direkt beobachtet. Der Forschergruppe um Prof. Kevin Pagel (Freie Universität), Prof. Peter H. Seeberger (Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung) und Prof. Gert von Helden (Fritz-Haber-Institut) gelang es nun erstmals, Oxoniumionen in der Gasphase des Vakuums einzufangen und dort genau zu untersuchen.
Im Vakuum liegen Oxoniumionen in völliger Isolation vor. Ohne potenzielle Reaktionspartner sind sie so über mehrere Sekunden stabil und können charakterisiert werden. Um in dieser kurzen Zeit möglichst viele Informationen zu erlangen, wurden die reaktiven Zwischenprodukte in superflüssigem Helium schockgefroren und anschließend direkt durch Beschuss mit Laserlicht aus dem Freie-Elektronen-Laser des Fritz-Haber-Instituts untersucht. So wurde es erstmals möglich, die genaue atomare Struktur der Oxoniumionen zweifelsfrei zu entschlüsseln. „Damit gelang uns der direkte Nachweis der von Fischer vor über 100 Jahren vorgeschlagenen Schlüsselkomponente bei der Reaktion von Zuckern“, berichtet Kevin Pagel.
Die Ergebnisse haben eine Bedeutung, die weit über die Grundlagenforschung hinausgeht: Synthetische Zucker werden häufig pharmazeutisch genutzt. Sie dienen zum Beispiel als effektive Impfstoffe gegen eine Reihe von Infektionskrankheiten. Auch in alltäglichen Anwendungen sind sie von großer Bedeutung. Moderne Ersatzstoffe für Muttermilch enthalten beispielsweise eine Reihe von aktiven Zuckern, die essenziell für die Entwicklung des Immunsystems von Neugeborenen sind. „Für die Zuckerchemie sind die Ergebnisse ein wichtiger Durchbruch, da wir nun erstmals ohne aufwändiges Probieren Reaktionen vorhersagen können“, erklärt Peter H. Seeberger. So wird es in Zukunft möglich, sehr komplexe Zucker einfacher und sehr viel kostengünstiger herzustellen.