Wenn „Geisterteilchen“ auf Materie stoßen

Theorie hilft beim Verständnis von Neutrinos

26.09.2016 - Deutschland

Auf der Spur der „Geisterteilchen“: Am Institut für Theoretische Physik der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) ist ein neuartiges theoretisches Verfahren zur Beschreibung der Wechselwirkungen von Neutrinos mit Materie entwickelt worden. Damit soll es möglich werden, die Eigenschaften dieser rätselhaften Teilchen, die in radioaktiven Zerfällen in der Sonne erzeugt werden, besser aufklären zu können. Menschen auf der Erde werden pro Quadratzentimeter Körperoberfläche und pro Sekunde von etwa 10 Milliarden Neutrinos getroffen. Grund zur Sorge besteht nicht, weil die Neutrinos alle Lebewesen – und auch die gesamte Erde – fast ohne Wechselwirkung durchdringen (daher die Bezeichnung Geisterteilchen) und damit kaum Schaden anrichten können.

Deshalb ist der Nachweis von Neutrinos sehr schwierig, obwohl sie so zahlreich sind. Bereits 1930 theoretisch vorhergesagt, konnten sie erst im Jahr 1956 erstmals experimentell nachgewiesen werden. Es dauerte dann wieder etwa 40 Jahre, bis Experimente zeigen konnten, dass diese Neutrinos nicht masselos sind, wie bis dahin immer angenommen, sondern eine – wenn auch sehr kleine – Masse besitzen. Für die experimentellen Ergebnisse, die zu diesem Schluss führten, wurde der Physik-Nobelpreis 2015 verliehen.

Um die Eigenschaften der Neutrinos weiter aufklären zu können, laufen in Japan und in den USA bereits jetzt sogenannte Long-Baseline-Experimente, in denen ein Neutrinostrahl an Beschleunigern erzeugt und dann über Entfernungen von 700 bis 1.300 Kilometern durch die Erde zu einem großen unterirdischen Detektor geschossen wird. Das gemeinsam von dem europäischen Forschungszentrum CERN bei Genf und dem amerikanischen Hochenergie-Labor Fermilab in der Nähe von Chicago geplante, rund 1,5 Milliarden US-Dollar teure Experiment DUNE soll die Genauigkeit dieser Experimente entscheidend verbessern. Mit einem Detektor in eineinhalb Kilometern Tiefe in einer alten Goldmine sollen insbesondere Aussagen über mögliche Verletzungen der Materie-Antimaterie-Symmetrie möglich sein.

Die Bestimmung der Neutrino-Eigenschaften verlangt die Kenntnis der Energie der Neutrinos im Strahl. Dies ist ein großes Problem, denn anders als in jedem anderen Experiment der Kern- und Teilchenphysik ist die Energie des Neutrinostrahls nicht bekannt, da diese Teilchen nur als Zerfallsprodukte anderer, primärer Teilchen am Beschleuniger erzeugt werden. Die Energie muss daher aus der Beobachtung des Endzustandes rekonstruiert werden. Da das Detektor-Material (Wasser, Kohlenstoff oder auch Argon) aus Atomkernen besteht, müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Neutrino-Kern-Wechselwirkung sehr genau verstehen. Nur so ist es möglich, aus dem Endzustand der Reaktion auf die Eingangsenergie zurückrechnen zu können. Die theoretische Kenntnis der Neutrino-Wechselwirkungen und der Kernstruktur ist dazu wichtig.

Die JLU-Physiker haben im letzten Jahrzehnt eine neuartige Beschreibung dieser Neutrino-Kern-Wechselwirkungen entwickelt, die auf quantenkinetischer Transport-Theorie beruht und diese „Zurückrechnung“ mit bisher ungeahnter Genauigkeit erlaubt. Diese Theorie ist umfänglich an bereits bekannten Elektron-Kern-Prozessen getestet und damit auf eine sichere Basis gestellt worden. In einer zur Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Physical Review“ angenommenen Arbeit wird die Theorie mit einer breiten Datenbasis zu Elektron-Kern- und Neutrino-Kern-Reaktionen verglichen. In allen Fällen wird eine hervorragende Übereinstimmung mit dem Experiment erzielt, so dass nun ein theoretischer Apparat zur Verfügung steht, um Vorhersagen für geplante Experimente wie zum Beispiel DUNE zu treffen. Der zugehörige Computercode steht unter gibuu.hepforge.org zum Download zur Verfügung.

Originalveröffentlichung

C, K. Gallmeister, U. Mosel, and J. Weil; "Neutrino-induced reactions on nuclei"; Phys Rev. C; 2016

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