Röntgenstrahlen enthüllen, wie Gläser ihre Stabilität verlieren

PETRA III-Experiment zeigt, wie sich Atome in einem Glas verhalten, wenn es geschwächt wird

28.11.2023
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Symbolbild

Ist Glas fest oder flüssig? Es ist ein weit verbreiteter Trugschluss, dass altes Glas, welches häufig unten dicker als oben ist (z.B. bei historischen Kirchenfenstern), langsam nach unten fließt, weil ein Glas eine hoch viskose Flüssigkeit ist. Bis zu einem gewissen Grad ist das richtig, Glas fließt extrem langsam, aber es ist ein Zustand zwischen fest und flüssig. Forschende aus Italien und Belgien haben sich mit DESY-Wissenschaftlern bei PETRA III zusammengetan, um den Geheimnissen der Stabilität von Glas auf die Spur zu kommen. Dazu untersuchten sie die Bewegung der Atome im Glas, während sie das Material verformten. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Physical Review X“ veröffentlicht worden.

Gläser sind interessante Substanzen - sie sind oft durchsichtig und erscheinen wie ein Festkörper. Aber ihnen fehlt eine wichtige Eigenschaft von Festkörpern, die Kristallisation, d.h. der Aufbau aus sich wiederholenden geordneten Strukturen aus Atomen, wie sie charakteristisch für feste Materialien ist. Gläser sind stattdessen ungeordnet: Ihre Atomabstände weisen kein regelmäßiges Muster auf. Dies ähnelt einem flüssigen Zustand, aber Gläser sind dennoch stabil genug, um die Eigenschaften eines Festkörpers aufzuweisen. Diese Unterschiede auf atomarer Ebene lassen Eigenschaften entstehen, die sich von denen fester Stoffe desselben Materials stark unterscheiden. So hat das im Alltag am häufigsten verwendente Quarzglas, in jeder Richtung die gleichen mechanischen und optischen Eigenschaften und ist im Vergleich zu seinem Volumen relativ leicht. Bereits in einer früheren Studie bei DESY hat das italienische-belgische Team festgestellt, dass die Atome des Glases eine so genannte „stochastische Beschleunigung“ erfahren können, was bedeutet, dass sie von einem Bereich des Materials zu einem anderen springen können, wenn sie Röntgenstrahlen ausgesetzt werden.

In der aktuellen Studie untersuchte das Team, in welchem Zusammenhang diese Bewegung zu Veränderungen der Stabilität des Glases steht. Wenn Gläser um einen kleinen Betrag gedehnt werden, ändert sich die Position der meisten Atome, ähnlich wie bei Festkörpern, fast elastisch und die meisten Atome bewegen sich zurück an ihren Platz, wenn die Verformung endet. Doch selbst bei der kleinstmöglichen Dehnung bewegen sich einige Atome nicht an ihren Platz zurück, wenn die Verformung endet - das bedeutet, dass sich Glas immer etwas „plastisch“ verhält. Die Tendenz zu einem plastischen Verhalten wird immer deutlicher, wenn das Glas stärker gedehnt wird, aber auch, wenn es mit Röntgenstrahlen ausgesetzt wird. Beides führt zu einer Schwächung des Materials. Doch welchen Effekt diese Schwachstellen genau haben, wird noch in der Fachwelt diskutiert. Das Team wollte deshalb untersuchen, wie diese Plastizität zustande kommt und wie dieses Szenario mit den atomaren Beschleunigungen zusammenhängt, die sie zuvor beobachtet hatten. „Mit dem Röntgenstrahl der Beamline P10 von PETRA III, untersuchen wir Gläser, wie sie in normalen Fenstern verwendet werden“, sagt Michael Sprung, DESY-Wissenschaftler bei P10. „Da auch Röntgenstrahlen Schwachstellen im Glas hervorrufen, die den physikalischen Veränderungen ähneln, wenn Gläser plastischer gemacht werden, konnten wir die atomaren Veränderungen im Glas in-situ beobachten.“

Die wichtigste Erkenntnis der Forscher: Die zuvor beobachteten stochastischen Beschleunigungen finden statt und verdrängen andere Atome in der Nähe bis hin zum Bruch. Diese Veränderungen sind es auch, die zu den klassischen Schwachstellen führen, die Gläser zum Nachgeben bringen.

„Ein analoges Beispiel wäre ein Stein, der in einen Teich geworfen wird: Der Eintauchpunkt ist eindeutig das Zentrum der Störung (in unserem Fall der Punkt, an dem die Röntgenstrahlen absorbiert werden), aber die Wellen breiten sich im ganzen Teich aus, wobei der Effekt umso geringer ist, je weiter er vom Aufprallpunkt entfernt ist“, erklärt Alessandro Martinelli, der Erstautor der Studie. „Das Gleiche passiert in unserem Glas, wo die Wirkung dieser Defekte das gesamte Material verändert.“

Wenn das Glas mit Röntgenlicht bestrahlt wird, macht es mehrere Veränderungen durch. Zunächst springen seine Atome elastisch hin und her, d.h. es verhält sich eher wie ein Festkörper. Wenn die Bestrahlung jedoch länger anhält, dann beginnen die Atome sich über etwas größere Entfernungen zu bewegen bis sie nicht mehr an ihren ursprünglichen Ort zurückkehren können. Dabei verdrängen sie andere Atome auf ihrem Weg. An diesem Punkt erfolgt der Übergang vom festen Glas zu einem Glas mit hoher Plastizität und genau dieser Prozess konnte nun zum ersten Mal auf atomarer Ebene beobachtet werden.

„Die Untersuchung des Bruchpunkts in Oxidglas ist experimentell sehr schwierig, da Glas normalerweise hier zerbricht“, sagt Giulio Monaco, Professor für Physik an der Universität Padua, der die Studie leitete. „Durch den Einsatz von Röntgenstrahlen ist es jedoch möglich, dieses Problem zu umgehen und mit atomarer Auflösung zu untersuchen, was mit klassischen Labortechniken nicht möglich ist. Diese Studie ist der erste Fall, in dem der Bruchpunkt durch Röntgenbestrahlung erreicht und der Übergang von einem elastischen zu einem plastischen Festkörper beobachtet werden konnte.“

Die Ergebnisse dieser Studie könnten den Weg zu einer kontrollierteren Veränderung der besonderen Eigenschaften von Gläsern ebnen und somit eine Vielzahl von potenziellen industriellen Anwendungen ermöglichen. An der Forschung waren Wissenschaftler:innen der Universität Padua, der Universität Trient, der Universität Brüssel und DESY beteiligt.

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