Europäische Chemieindustrie bestätigt: Die Krise ist Geschichte

A.T. Kearney, CHEManager Europe und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster untersuchen Kunden-Lieferantenverhältnis in der europäischen Chemieindustrie

28.09.2010 - Deutschland

In der europäischen Chemieindustrie und bei ihren Kunden materialisiert sich der Wirtschaftsaufschwung: In den letzten zwölf Monaten verzeichneten 85 Prozent der Chemieunternehmen einen Nachfrageanstieg. Bei 80 Prozent legte die Produktionsauslastung um bis zu 30 Prozent zu. Zu diesem Ergebnis kommt eine europaweite Befragung der Top-Managementberatung A.T. Kearney, CHEManager Europe und der Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Sie wurde in den Monaten Juni und Juli unter 110 Führungskräften aus 15 Ländern durchgeführt. Die Teilnehmer bestätigen, dass in der Krise sämtliche Maßnahmen zur Steigerung der Agilität ihrer Geschäftsprozesse wichtiger geworden sind. Am stärksten hat für die Chemieindustrie eine bessere Steuerung der Komplexität an Bedeutung gewonnen (59 Prozent). Dabei kommt es darauf an, interne Prozesse zu straffen, ohne das Angebotsportfolio zu schwächen. Nachholbedarf sehen europäische Chemieunternehmen darüber hinaus in ihren Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit.

„Die wirtschaftliche Erholung in der europäischen Chemieindustrie und in ihren Abnehmerbranchen stabilisiert sich. Nachdem die Nachfrage nach Chemieprodukten in der Krise massiv eingebrochen war, entwickelt sie sich aktuell über Marktniveau“, beschreibt Dr. Tobias Lewe, Partner in der Chemie und Öl Practice von A.T. Kearney das konjunkturelle Stimmungsbild der Branche.

Merkliche Belebung

85 Prozent der teilnehmenden Chemieunternehmen verzeichneten in den letzten zwölf Monaten einen Nachfrageanstieg. Bei mehr als jedem vierten Unternehmen legte sie um mehr als 30 Prozent zu. Auch die Preise für Chemikalien haben einen deutlichen Anstieg verbucht. Zudem vermeldeten 80 Prozent der Chemieunternehmen eine Verbesserung der Produktionsauslastung um bis zu 30 Prozent.

Die Erwartungen bekräftigen die positive Entwicklung: Mehrheitlich erwarten Lieferanten und Kunden, dass die Nachfrage nach ihren Produkten in den nächsten zwölf Monaten weiter zulegen wird. Auch für die Entwicklung der Rohstoffpreise prognostizieren die Teilnehmer einen Anstieg.

Über die Hälfte der Befragten beider Gruppen haben darüber hinaus in den letzten zwölf Monaten ihre Lagerbestände verringert. „Eine Lehre aus der Wirtschaftskrise“, erläutert Dr. Marc Vathauer, Senior Manager in der Chemie und Öl Practice von A.T. Kearney. „Viele Unternehmen hatten bereits während des Konjunkturabschwungs ihre Bestände deutlich gesenkt. Durch eine weitere Verringerung versuchen die Unternehmen, sich besser vor möglichen Absatz- und Rohstoffpreisschwankungen zu schützen.“

Ferner haben viele Lieferanten im Zuge der konjunkturellen Entspannung ihre Prioritäten an der Kundenschnittstelle neu gesetzt. Waren sie in der Krise hauptsächlich mit der Optimierung der eigenen Prozesse und Strukturen beschäftigt, so führt aktuell die Entwicklung maßgeschneiderter Angebote ihre Prioritätenliste an. Chemielieferanten richten ihre Aufmerksamkeit wieder verstärkt darauf, den Wünschen ihrer Kunden zu entsprechen - damit können sie nicht nur ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern, sondern mittelfristig auch ihre Marktanteile.

„Ungeachtet dieser positiven Entwicklung ist es für Chemieunternehmen wichtig, sich bestmöglich auf ein voraussichtlich weiterhin volatiles Marktumfeld einzustellen. Die Krise hat gezeigt, dass die Fähigkeit, schnell und flexibel auf plötzliche Marktveränderungen zu reagieren, überlebenswichtig werden kann. Unternehmen sollten daher weiter intensiv daran arbeiten, ihre Agilität zu erhöhen“, erklärt Lewe.

Zunehmende Bedeutung von Agilität bestätigt

Erwartungsgemäß haben für Chemieunternehmen und ihre Kunden sämtliche Hebel zur Erhöhung der Agilität und damit der unternehmerischen Flexibilität im Zuge der Krise an Bedeutung gewonnen. Allerdings hat jeder Vierte beider Parteien noch gar nicht mit der operativen Implementierung begonnen. Etwa die Hälfte der befragten Lieferanten und Kunden hat indes die konzeptionelle Phase abgeschlossen und ist nun im Begriff der operativen Umsetzung.

Komplexität steuern

Für Chemieunternehmen hat vor allem eine bessere Steuerung der Komplexität in der Krise an Bedeutung gewonnen (59 Prozent). In den vergangenen Jahren haben sich Chemieunternehmen und ganz besonders Spezialitätenanbieter verstärkt durch ein immer differenzierteres Produktangebot von ihren Wettbewerbern zu unterscheiden versucht. Unweigerlich hat dies Produktions- und Logistikkosten in die Höhe getrieben. Vathauer erklärt: „Chemieunternehmen versuchen derzeit intensiv zu verstehen, was aus Sicht ihrer Kunden einen tatsächlichen Wert darstellt und worauf verzichtet werden kann. Verstärkt versuchen sie, interne Prozesse und Abläufe so zu standardisieren, dass Komplexität dort reduziert wird, wo sie für den Kunden keinen Mehrwert darstellt. Gleichzeitig gilt es, durch maßgeschneiderte Produkte weiterhin die gewohnte Kundennähe zu gewährleisten.“

Dazu müssen sie das gesamte Geschäftssystem hinterfragen. Angesichts einer fortschreitenden Standardisierung ist zu erwarten, dass Chemieunternehmen in Zukunft verstärkt Services zukaufen werden.

Grün - aber noch nicht grün genug

Die aktuelle Befragung bestätigt darüber hinaus: Nachhaltigkeit ist auf dem Vormarsch und spielt für Chemieunternehmen und ihre Kunden gleichermaßen eine immer größere Rolle.

Während soziale Nachhaltigkeit und Corporate Governance von beiden Lagern als in etwa gleich wichtig erachtet werden, messen die Kunden der Umweltbilanz eindeutig eine höhere Bedeutung zu als die Hersteller. „Für Chemieunternehmen empfiehlt es sich, aufzuholen - da die Verpflichtung zu mehr Umweltschutz durchaus die Mühe lohnt“, sagt Lewe. Eine A.T. Kearney Studie hatte gezeigt, dass nachhaltige Chemieunternehmen im Zeitraum Januar 2008 bis Juni 2009 eine um 7 Prozent höhere Aktien-Performance erzielt hatten als Unternehmen, die sich nicht der Nachhaltigkeit verschrieben haben.

Chemieunternehmen unterstützen ihre Kunden auf vielfältige Weise in ihren Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit. So arbeiten 60 Prozent der Lieferanten daran, die Nachhaltigkeit ihrer Lieferkette zu verbessern. Dazu kooperieren sie mit ihren Kunden beim Lieferzeiten-Management oder setzen auf höchste Sicherheitsstandards für den Warentransport. Rund 60 Prozent der Lieferanten stellen ihren Kunden technische Dienstleistungen zur Verfügung, um deren operative Nachhaltigkeit zu verbessern. Ein Drittel aller Lieferanten wiederum bietet seinen Kunden die Möglichkeit der Produkt-Rücknahme und -wiederverwertung und bei ebenso vielen Lieferanten kommen auf Wunsch erneuerbarer Rohstoffe zum Einsatz.

Obgleich die Kunden vergleichsweise zufrieden damit sind, wie ihre Lieferanten sie in ihren Nachhaltigkeitsbemühungen unterstützen, sehen die Lieferanten bei sich selbst durchaus noch Handlungsbedarf. Dieses Potenzial zu erschließen, wird für Chemieunternehmen in der nahen und mittelfristigen Zukunft eine interessante Herausforderung werden.

Lewe zusammenfassend: „Zwar hat sich die Konjunktur erholt, doch die Zukunft will vorbereitet werden. Aktuell sehen wir zwei wesentliche Differenzierungsmerkmale für Chemieunternehmen, die ihnen zu einem wichtigen Wettbewerbsvorteil verhelfen können. Zum einen wird es verstärkt darauf ankommen, die Komplexität interner Strukturen und Prozesse zu optimieren, ohne dabei das Angebotsportfolio zu schwächen. Zum anderen werden vor allem diejenigen Unternehmen erfolgreich sein, die sich zu mehr Nachhaltigkeit verpflichten, denn diese wird nicht nur von den Kunden sondern auch von den Kapitalmärkten honoriert.“

Chemical Customer Connectivity Index

Zum vierten Mal haben die Top-Managementberatung A.T. Kearney, CHEManager Europe und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster das Kunden-Lieferanten-Verhältnis in der europäischen Chemieindustrie analysiert.

Beteiligt haben sich Top-Manager von Chemieherstellern und Unternehmen verschiedener Kundenindustrien aus 15 europäischen Ländern. Bei den Kundenindustrien finden sich 10 Branchen abgedeckt, von der Automobil- über die Lebensmittel- bis hin zur Kosmetikindustrie.

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