Ein Weckruf für die Chemie

Wie die Chemie übermäßige biogeochemische Ströme begrenzen und Nachhaltigkeit erreichen kann

06.10.2022 - Deutschland

Ein gerade in der Zeitschrift „Chemical Science“ veröffentlichter Artikel weist auf die entscheidende Rolle hin, die die Chemie bei der Bewältigung der zahlreichen globalen Krisen spielen muss, die durch die Überschreitung der Planetaren Grenzen entstanden sind. Diese neun Grenzen, die erstmals 2009 formuliert wurden, definieren sichere Betriebsräume, innerhalb derer sich die Menschheit noch über Generationen hinweg gut entwickeln kann. Prof. Henning Hopf von der Technischen Universität Braunschweig schlägt zusammen mit Prof. Stephen Matlin, Gastprofessor am Institute of Global Health Innovation am Imperial College London, und einer internationalen Gruppe von Wissenschaftler*innen drei entscheidende Schritte vor, mit denen die Chemie auf die weltweiten Krisen reagieren sollte.

Jonas Vogel, Kristina Rottig/TU Braunschweig

Symbolbild

Die Planetaren Grenzen bzw. Belastungsgrenzen der Erde beziehen sich auf den Klimawandel (verursacht durch Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan), auf die Veränderung der Integrität der Biosphäre (Verlust der biologischen Vielfalt und Aussterben), auf den Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre, auf die Versauerung der Ozeane, auf die Stickstoff- und Phosphorflüsse in die Biosphäre und die Ozeane (biogeochemische Flüsse), auf die Veränderungen der Landsysteme, auf den Süßwasserverbrauch und globalen Wasserkreislauf, auf die atmosphärische Aerosolbelastung (Partikel in der Luft, die teilweise aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und Biomasse stammen) und auf die Freisetzung neuartiger Stoffe.

Der außerordentliche Erfolg der Chemie als Wissenschaft von der Umwandlung von Materie, der der Gesundheit, dem Wohlstand und dem Wohlergehen der Menschheit enorme Vorteile bringt, ist von zentraler Bedeutung für die wachsende Menge und Vielfalt der vom Menschen erzeugten Artefakte. Die Produktion der anthropogenen Masse (globale Gesamttrockenmasse des in unbelebten, festen Gegenständen enthaltenen Materials, die vom Menschen hergestellt wurden) hat sich seit 1900 alle 20 Jahre verdoppelt und erreichte 2020 30 Milliarden Tonnen pro Jahr und insgesamt etwa 1,1 Billionen Tonnen. Diese akkumulierte Menge entsprach zum ersten Mal dem Trockengewicht der gesamten Biomasse auf der Erde, und bei den derzeitigen Trends wird die anthropogene Gesamtmasse bis 2040 das Dreifache des Trockengewichts der Biomasse betragen. Gleichzeitig hat sich die Produktionskapazität der weltweiten chemischen Industrie (ohne Pharmazeutika) zwischen 2000 und 2017 von etwa 1,2 auf 2,3 Milliarden Tonnen fast verdoppelt.

Jüngste Bewertungen weisen in alarmierender Weise darauf hin, dass viele der weltweit am meisten genutzten Chemikalien eine oder mehrere der neun Planetaren Grenzen überschreiten. Im Falle von neuartigen Stoffen, für die noch keine Kontrollgröße der Planetaren Grenzen international vereinbart sind, wurde vorgeschlagen, dass ein Maß für die Produktion und Freisetzung von Kunststoffen ein möglicher Parameter sei – allerdings wurde auch diese Grenze bereits überschritten.

Die sich verschärfenden Krisen können nicht ignoriert werden. Die Chemie kann dabei einen entscheidenden Beitrag zur Zukunft leisten. Das internationale Autorenteam des Artikels schlägt dazu drei Schritte vor, mit denen Chemiker*innen auf den Weckruf reagieren können: (1) die Bedrohungen aus Sicht der Chemie besser verstehen; (2) Innovation nutzen, die für die Praxis der Chemie von zentraler Bedeutung sind, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln; und (3) die Umgestaltung der Chemie selbst, in Ausbildung, Forschung und Industrie, um sie als „Chemie für Nachhaltigkeit“ neu zu positionieren und die Verantwortung für die chemischen Ressourcen der Welt zu übernehmen. Dies erfordert die Erhaltung von Materialvorräten in einer Form, die für die Nutzung verfügbar bleibt, durch die Beachtung der Kreislaufwirtschaft sowie ein verstärktes Engagement in systembasierten Ansätzen zur Gestaltung der chemischen Forschung und Prozesse, die durch konvergierendes Arbeiten mit vielen anderen Disziplinen geprägt sind.

Die Autoren des Papers Chemistry must respond to the crisis of transgression of planetary boundaries“ sind Wissenschaftler*innen, die der Gruppe Chemists for Sustainability (C4S) der International Organization for Chemical Sciences in Development (IOCD) angehören. Diese Organisation ist eine 1981 gegründete internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Namur, Belgien. Die IOCD fördert das Streben nach und die Anwendung von chemischen Wissenschaften für eine nachhaltige Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum. Ihr derzeitiger Fokus liegt auf der Rolle der chemischen Wissenschaften für die globale Nachhaltigkeit. Die C4S-Gruppe sind Chemiker*innen, die sich dafür einsetzen zu erkennen, dass die Chemie und verwandte Wissenschaften eine stärkere und unverzichtbare Rolle bei der Verwirklichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung spielen muss.

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