Graphen: Perfektion ist unnötig

Für die weltweite Graphen-Community ist das eine gute Nachricht

30.08.2023 - Österreich

Das Kohlenstoffmaterial Graphen hat hervorragende elektronische Eigenschaften. Aber sind sie auch stabil genug, um in der Praxis nützlich zu sein? Rechnungen der TU Wien sagen: Ja.

Technische Universität Wien

Das hexagonale Muster steht für die Struktur des 2D-Materials Graphen, die Welle für die Ausbreitung der Elektronen.

Nichts auf der Welt ist perfekt. Das gilt auch in der Materialforschung. Am Computer stellt man die Situation oft stark idealisiert dar, man berechnet beispielsweise die Eigenschaften, die ein absolut perfekter Kristall hätte. In der Praxis hat man es aber immer mit schmutzigen Zusatzeffekten zu tun – mit Fehlern im Kristallgitter, mit zusätzlichen Teilchen, die sich außen anlagern, mit komplizierten Wechselwirkungen zwischen den Teilchen. Die entscheidende Frage ist daher: Ändern sich die Materialeigenschaften durch diese unvermeidlichen Zusatzeffekte oder nicht?

Besonders interessant ist das im Fall des zweidimensionalen Materials Graphen, das nur aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen besteht. Schon lange weiß man, dass Graphen ganz ausgezeichnete elektronische Eigenschaften aufweist. Unklar war bisher aber: Wie stabil sind diese Eigenschaften? Werden sie durch Störungen und Zusatzeffekte zerstört, die in der Praxis unvermeidlich sind, oder bleiben sie erhalten? An der TU Wien gelang es nun, ein umfassendes Computermodell realistischer Graphen-Strukturen zu entwickeln. Dabei zeigte sich: Die gewünschten Effekte sind sehr stabil. Auch Graphen-Stücke, die nicht ganz perfekt sind, lassen sich gut für technologische Anwendungen nutzen. Für die weltweite Graphen-Community ist das eine gute Nachricht.

Viele Wege führen durchs Graphen

„Wir berechnen auf atomarer Skala, wie sich elektrischer Strom in einem winzigen Stück Graphen ausbreitet“, sagt Prof. Florian Libisch vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. „Es gibt unterschiedliche Wege, auf denen sich ein Elektron durch das Material bewegen kann. Nach den Regeln der Quantenphysik muss es sich nicht für einen dieser Wege entscheiden, das Elektron kann mehrere Wege gleichzeitig nehmen.“

Diese unterschiedlichen Wege können sich dann auf unterschiedliche Arten überlagern. Bei ganz bestimmten Energiewerten löschen die Wege einander gegenseitig aus, bei dieser Energie ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass Elektronen durch das Graphen-Stück gelangen, der elektrische Stromfluss ist dann minimal. Man spricht in diesem Fall von “destruktiver Interferenz”.

„Dass der Stromfluss bei ganz bestimmten Energiewerten aus quantenphysikalischen Gründen extrem zurückgeht, ist technologisch ein höchst erwünschter Effekt“, erklärt Florian Libisch. „Das kann man zum Beispiel nutzen, um auf winziger Größenskala Information zu verarbeiten, ähnlich wie das elektronische Bauteile im Computerchip tun.“

Man kann damit auch neuartige Quantensensoren entwickeln: Angenommen, ein Graphen-Stück lässt praktisch keinen Strom durch. Dann lagert sich plötzlich ein Molekül von außen auf der Graphen-Oberfläche an. „Dieses eine Molekül verändert die elektronischen Eigenschaften des Graphen-Stücks ein kleines bisschen, und das kann bereits ausreichen, um plötzlich den Stromfluss ganz drastisch zu erhöhen“, sagt Dr. Robert Stadler. „Damit könnte man extrem sensible Sensoren herstellen.“

Zahlreiche mögliche Störungen

Doch die physikalischen Effekte, die dabei im Detail eine Rolle spielen, sind sehr kompliziert: „Die Größe und Form des Graphen-Stücks ist nicht immer gleich, es kommt zu Vielteilchen-Wechselwirkungen zwischen mehreren Elektronen, die mathematisch nur sehr schwer zu berechnen sind. Es kann sein, dass an manchen Stellen von Anfang an unerwünschte Zusatz-Atome sitzen, außerdem wackeln die Atome immer ein bisschen – all das muss man berücksichtigen, um das Material Graphen auf wirklich realistische Weise beschreiben zu können“, sagt Dr. Angelo Valli.

Genau das gelang nun an der TU Wien: Angelo Valli, Robert Stadler, Thomas Fabian und Florian Libisch haben jahrelange Erfahrung damit, unterschiedliche Effekte in Materialien in Computermodellen korrekt zu beschreiben. Durch die Kombination ihrer Expertise gelang es ihnen nun, ein umfassendes Computermodell zu entwickeln, das alle maßgeblichen Fehlerquellen und Störeffekte beinhaltet, die es in Graphen gibt. Und dadurch konnten sie zeigen: Auch in Anwesenheit dieser Fehlerquellen sind die gewünschten Effekte noch immer sichtbar. Immer noch lässt sich eine bestimmte Energie finden, bei der Strom durch Quanteneffekte nur noch in sehr geringem Ausmaß fließt. Experimente hatten darauf bereits hoffen lassen, doch eine systematische theoretische Untersuchung fehlte bisher.

Das beweist: Graphen muss nicht perfekt sein, um für Quanteninformationstechnologie oder Quantensensorik genutzt werden zu können. Für die angewandte Forschung in diesem Bereich ist das eine wichtige Botschaft: Die weltweiten Anstrengungen, die Quanteneffekte in Graphen auf kontrollierte Weise zu nutzen, sind tatsächlich vielversprechend.

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